Südkorea: Nach dem Test ist vor dem Test

Das Bildungssystem in Südkorea ist geprägt von Leistungsdruck – und der beginnt bereits im Kindergarten.

Jong-Hi Lee strahlt. Sie ist sehr zufrieden. Die 18-Jährige hat ausgesprochen gute Ergebnisse im Suneung, dem südkoreanischen Schulabschluss. Jetzt feiert sie, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Aber nur zwei Tage. Dann bereitet sie sich auf die nächste Prüfung vor.

Im Bildungssystem Südkoreas ist nach dem Test vor dem Test. Das gilt für die gesamte zwölfjährige Schulzeit und darüber hinaus. So berechtigt der Schulabschluss zwar, an einer Universität zu studieren. Doch das allein ist nicht mehr genug. Immer mehr Hochschulen verlangen inzwischen einen zusätzlichen Aufnahmetest. War im Jahr 2002 bei 70 Prozent der Suneung (College Scholastic Ability Test) noch die Eintrittskarte in eine Uni, sank diese Zahl nach Angaben des Korean Council for University Education im Jahr 2021 auf 23 Prozent.

Der Leistungsdruck beginnt bereits im Kindergarten. Denn allgemein wird erwartet, dass Schülerinnen und Schüler bereits lesen und rechnen können, wenn sie in die erste Klasse kommen. Das beschert Südkorea in den Pisa-Studien der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zwar immer einen vorderen Platz bei Schulleistungen. Doch fordert das viel von Kindern und Eltern.

Ju-Yeon Kim macht sich bereits viele Gedanken, wie sie ihre zweijährige Tochter auf die Schulzeit vorbereiten kann. "Ich versuche, meine Tochter mit vielem bekannt zu machen, um herauszufinden, was sie interessiert", sagt die 45-Jährige. Andere gehen einen Schritt weiter. 35 Prozent der Zweijährigen und 80 Prozent der Fünfjährigen besuchten 2016 nach Angaben des Korea Institute for Childcare and Education eine private Entwicklungsschule. Ohne private Nachhilfeeinrichtungen geht es offensichtlich nicht.

2019 nahmen nach Angaben des Korean Statistical Information Service 74,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler Nachhilfe zusätzlich zum Unterricht in den staatlichen Schulen.

Der größte Teil des südkoreanische Nachwuchses paukt bis zu 16 Stunden täglich. Vormittags und nachmittags lernen sie in der Schule, anschließend unterrichten Lehrerinnen und Lehrer in den Nachhilfeschulen die wichtigsten Fragen für anstehende Prüfungen in den verschiedenen Fächern, vermitteln Test- und Stressmanagement. Schließlich müssen Mädchen und Jungen nicht nur wissen, wie man lernt, sondern etwa auch, wie sie sich am besten auf den Punkt konzentrieren und wie sie sich ihre Zeit während eines Tests einteilen.

Der Leistungsdruck veranlasst einige, den Abschlusstest zu wiederholen, wenn sie mit dem Resultat des ersten Versuchs unzufrieden sind. Andere gehen ins Ausland, um dort ihre Kinder in die Schule zu schicken. Manche Familien leben deshalb getrennt.

Auch zum Studium kehren einige Südkorea den Rücken. Schrieben sich im Wintersemester 2005/2006 noch 3875 Menschen aus Südkorea an einer Uni in Deutschland ein, stieg die Zahl seither kontinuierlich auf 6461 südkoreanische Studierende im Wintersemester 2019/20, heißt es in der Bildungssystemanalyse 2021 des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst). Dieser vermeintliche Ausweg birgt allerdings Probleme, wenn die Familien oder Studierenden wieder zurückkehren und sich in den südkoreanischen Alltag integrieren müssen.

All das ist nicht nur stressig und aufwendig, es ist auch teuer. Im Schnitt zahlen Eltern monatlich rund 320 Euro für die Nachhilfe ihres Kindes in dem "sehr kommerziellen südkoreanischen Bildungssystem", schreibt der DAAD. Die vergleichsweise hohen Kosten für Bildung machen viele neben steigenden Mieten verantwortlich für die gesunkene Geburtenrate, die in Korea mit 0,84 Geburten pro Frau zur niedrigsten weltweit gehört, so der DAAD weiter. 2017 ist deshalb das Verhältnis von Jungen und Alten erstmals gekippt, gibt es mehr über 65-Jährige als unter 14-Jährige.

Wegen dieser Alarmsignale haben in den vergangenen Jahren die verschiedenen Regierungen versucht, das Bildungssystem zu reformieren. Sie wollten die teils exorbitanten Studiengebühren der Eliteuniversitäten senken oder beseitigen, sie wiesen sie an, die teils zu anspruchsvollen Fragen in ihren Zugangstests zu streichen. Doch über diese Ansätze kamen sie nicht hinaus. Die Beharrungskräfte scheinen zu groß.

Kaum verändern lassen sich auch der Leistungsgedanke und die Erzählung, wonach der wirtschaftliche Erfolg Südkoreas eine Folge des harschen Bildungssystems sei. Demnach ist die Leistungsbereitschaft während der Schulzeit für den Aufstieg Koreas mitverantwortlich. Er verwandelte das von Japan während der Kolonialzeit (1910 bis 1945) ausgebeutete und während des Korea-Kriegs (1950 bis 1953) fast vollständig zerstörte Land über Jahrzehnte erst in einen Tigerstaat und dann zu einer der derzeit zehn stärksten Wirtschaftsnationen.

Für den vergleichsweise rasanten ökonomischen Aufstieg Südkoreas mit derzeit rund 52 Millionen Menschen sind sicher zusätzliche Faktoren entscheidend. Doch im Bewusstsein der Bevölkerung gehört Bildung ganz wesentlich dazu. Nicht umsonst beginnt der Arbeitstag für viele am Tag der Abschlussprüfung im November eine Stunde später, damit die Schülerinnen und Schüler nicht wegen des Verkehrs zu spät zu den eintägigen Tests kommen. Droht sich jemand dennoch zu verspäten, macht die Polizei in Einzelfällen schon mal den Weg frei. Auch der Flugverkehr wird zeitweise eingeschränkt, damit der Fluglärm nicht einige Schülerinnen und Schüler stört und damit benachteiligt.

Für die Menschen in Korea ist all das normal. Sie fühlen eben mit und erinnern sich noch gut an die Strapazen der Schulzeit und des Abschlusstests. So wie der 25-jährige Kyung Sung Bae, der inzwischen als Manager arbeitet. Er gehört zu jenen, die einen Job gefunden haben. Die besten Chancen dafür bietet die Hauptstadt Seoul, wo sich Regierungsinstitutionen, die Zentralen der Konzerne und viele Universitäten konzentrieren und in deren Einzugsgebiet rund 25 Millionen Menschen leben und damit etwa die Hälfte der Bevölkerung.

Doch nach Angaben des DAAD ist die Jugendarbeitslosigkeit im Jahr 2021 de facto bei 25 Prozent vergleichsweise hoch. Dies bedrohe die zentrale Annahme der südkoreanischen Leistungsgesellschaft. Es werden eben nicht mehr alle nach harten und entbehrungsreichen Jahren im Bildungssystem und einem anschließend meist kostenintensiven Studium mit einem mit einem sicheren Arbeitsplatz in einem Großkonzern belohnt. Hält diese Entwicklung an, dürfte der Druck auf Reformen steigen – nicht nur des Bildungssystems.


Quelle: Frankfurter Rundschau, fr.de, 12.12.2022