Job-Boom in den USA macht Fachkräfte zur Mangelware

Die gute Konjunktur hat den US-Arbeitsmarkt leergefegt. Für Unternehmen bedeutet das: Sie müssen etwas bieten, wenn sie Mitarbeiter für sich begeistern und halten wollen. Im Fall von Unternehmen aus Deutschland, dem Mutterland der Berufsausbildung, heißt das häufig: Qualifikation.

Carolina. Ein Raum voller Monitore. Brittany Orsak, eine junge, blonde Frau in Jeans und Polohemd, zeigt auf einen der Bildschirme: "Wir müssen das Ventil mehr öffnen", sagt sie zu dem dunkelhaarigen jungen Mann rechts neben ihr. Kurz diskutieren die beiden über den idealen Fluss für das Rohrsystem auf dem Computerbildschirm. Dann klickt sie.

Was Brittany Orsak und Rigoberto Cardenas hier am Rechner exerzieren, ist kein Videospiel. Ihre Befehle steuern knapp zehn Meter weiter draußen ein Labyrinth aus echten Rohren, Pumpen und Ventilen.

Willkommen im "BASF Center for Process Technology" im Brazosport College in Freeport an der Golfküste von Texas.

In der Erdölregion südlich von Houston erteilt der badische Chemiekonzern jungen Menschen wie Brittany und Rigoberto Praxislektionen in Anlagentechnik. Durch die blauen und weißen Rohre fließt zwar Wasser statt Chemikalien, aber sonst ist die Übungsanlage ein maßstabgetreuer Nachbau einer Chemieanlage im BASF-Werk eine halbe Autostunde von hier.

Eine Million Dollar hat das deutsche Unternehmen für die Mini-Anlage samt Kontrollraum für das lokale College gespendet.

Ziel ist es, junge Menschen für den Beruf des Anlagentechnikers zu gewinnen. Hier lernen sie, Produktionsprobleme zu lösen, die in einer echten Anlage gefährlich und kostspielig sein können.

Für BASF ist das Center ein Investment in die derzeit knappste Ressource: Mitarbeiter. Die Arbeitslosigkeit liegt nach Jahren der Hochkonjunktur bei zuletzt 3,7 Prozent. Um in dieser Situation überhaupt noch neue Mitarbeiter, Fachkräfte zudem, zu finden, müssen sich Unternehmen in den USA einiges einfallen lassen.

Die Mobilität der Arbeiter ist gesunken

"Die Unternehmen finden kaum mehr Mitarbeiter, auch, weil im Vergleich zu den letzten Jahren ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung bereits beschäftigt ist", erklärt der Arbeitsmarktökonom Simon Jäger vom MIT. Selbst die stille Reserve derer, die arbeiten können, aber es gerade nicht tun, ist geschrumpft. Und die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) liegt so niedrig wie seit fast fünf Jahrzehnten nicht mehr und gilt für viele Ökonomen bereits als Vollbeschäftigung.

Für die Unternehmen bedeutet das: Sie müssen etwas bieten, wenn sie Mitarbeiter für sich begeistern und halten wollen. Im Fall von Unternehmen aus Deutschland, dem Mutterland der Berufsausbildung, heißt das häufig: Qualifikation.

Brittany Orsak ist innerhalb von Texas aus einer landwirtschaftlichen Region nach Freeport gezogen. "Bei uns habe ich nur Billigjobs in Lagerhallen gefunden", erzählt sie. Bei einer Jobmesse hörte sie von den Stipendien, die BASF für das zweijährige Studium vergibt. "Ich hätte sonst nicht ans College gehen können", ist sich die freundliche, zupackende Frau sicher.

Mit dem Stipendium hat sie sich zwar zu nichts verpflichtet. Dennoch hat sie vor Kurzem bei BASF unterschrieben. "Wenn jemand dir das Studium bezahlt, empfindest du schon eine gewisse Loyalität", sagt sie lachend, während sie das rote Ventil an der Minianlage wieder nach unten dreht.

Dass sich selbst Weltkonzerne mit der Suche so schwertun, liegt auch daran, dass der mobile amerikanische Arbeitnehmer, der für den Job problemlos alle paar Jahre Haus und Freunde aufgibt, heute immer mehr zum Mythos wird. "Die Menschen ziehen in den USA nicht mehr so leicht von einem Staat zum anderen wie früher", stellt Jäger fest.

Nach einer Studie des Brookings-Instituts liegt die Mobilität – also der Anteil der Menschen, die in einem Jahr umziehen – mit elf Prozent so niedrig wie seit 1948 nicht mehr. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren waren mehr als 20 Prozent normal.

Der Mangel betrifft längst nicht mehr nur IT-Spezialisten oder Ingenieure. In Freeport in Texas sind auch Schweißer und Anlagentechniker Mangelware. Um sie zu umwerben, gehen die Unternehmen mittlerweile in Schulen und Kirchen und rekrutieren unter Veteranen.

"So schwer wie jetzt war es noch nie", stellt auch Tommy Plummer fest. Der kräftige Mann mit schütterem blondem Haar in Karohemd und Kakihose sucht in Texas nach Talenten. Dabei konkurriert der langjährige BASF-Mitarbeiter hier in der Chemiehochburg der USA mit Firmen wie Dow Chemical und LG Chem. Trotzdem hat er Brittany und Rigoberto von BASF überzeugen können.

Nachwuchskräfte machen sich rar

Um den Nachwuchs schon früh zu erreichen, geht Plummer regelmäßig in die örtlichen Highschools, veranstaltet Sommerkurse und bringt sogar schon Grundschulklassen in die Minianlage auf dem College-Campus. Den Verein der Hispanics besucht er ebenso wie das 50 Kilometer entfernt gelegene Zentrum für Veteranen. "Wenn ich einen Studenten im Supermarkt arbeiten sehe, dann spreche ich ihn oder sie sofort an, ob er nicht lieber bei uns anheuern will", sagt Plummer. Auch die Frauen haben die Recruiter als wichtige Zielgruppe entdeckt. Das Programm "Women in Manufacturing" soll bei BASF die Frauenquote von 17 auf 33 Prozent steigern.

Dieses Programm macht auch Leslie Obregon mit, die zusammen mit Brittany und Rigoberto im Kontrollraum im Brazosport College die Minianlage abschreitet und nach Fehlern sucht. Die gelernte Elektrikerin war bisher nur als Zeitarbeiterin in den Fabriken unterwegs. Jetzt hat sie eine feste Stelle in Aussicht. "Vielleicht komme ich mit BASF auch mal aus Texas heraus", sagt die Frau in ihren 40ern mit dem praktischen Kurzhaarschnitt. Es wäre das erste Mal in ihrem Leben.

Der Kampf um Mitarbeiter beschränkt sich längst nicht auf Texas oder die Chemiebranche. Fast 2.000 Kilometer weiter nordöstlich, in Charleston im Bundesstaat South Carolina, hat auch Mercedes mit den Auswirkungen des angespannten Arbeitsmarkts zu kämpfen: Es ist ein schwüler Herbsttag, an dem der Chef des Sprinter-Werks, Michael Balke, stolz die hellen, neuen Hallen präsentiert. Auf 900.000 Quadratmetern ziehen riesige, gelbe Krakenarme Schrauben an Aluminiumplatten fest, bevor die Teile automatisch weitergeleitet werden an eine Station, an der Arbeiter mit Schutzbrillen und Helmen daran Hand anlegen.

500 Millionen Dollar haben die Deutschen im tiefen Süden der USA in ihr neues, erweitertes Werk investiert. Hier bauen amerikanische Arbeiter die Sprinter-Vans zusammen. 1.300 Jobs sind so entstanden. Allein Amazon hat 20.000 der Lieferwagen geordert.

"Es ist nicht einfach, in so einem Arbeitsmarkt die richtigen Leute zu bekommen", erzählt Werkschef Balke, während über ihm an der Decke die halb fertigen Vans entlangschweben. Die Maschinen hier zu installieren war das eine, was den drahtigen blonden Mann dieses Jahr beschäftigte. Die Menschen zu finden, die daran arbeiten sollen, das andere.

Arbeiter verabschieden sich schnell

In Charleston arbeitet Balke deshalb mit Schulen zusammen und unterstützt dort etwa die Robotics-Programme. "Wir laden die Schüler dann auch in unser Werk ein", erklärt Balke. "Man kann sie nicht früh genug für unsere Technologien begeistern", ist er überzeugt. Mit den lokalen Colleges hat der deutsche Autobauer ein Programm entwickelt, das der dualen Ausbildung in Deutschland ähnelt.

Die Hochschulen vermitteln die Grundlagen, Mercedes bietet das jobspezifische Training. Schweißen üben die Mitarbeiter mit der Virtual-Reality-Brille und einem intelligenten Handschuh – fast wie beim Spielen eines Videospiels. Auch das ein Anreiz für die jungen Mitarbeiter.

Doch auch Balke weiß: Der US-Arbeitsmarkt ist dynamischer als der deutsche, und in Boomzeiten ist das zum Nachteil der Arbeitgeber. So schnell, wie die Unternehmen Mitarbeiter feuern können, so schnell können sich die Mitarbeiter auch verabschieden, wenn sie woanders mehr verdienen oder geboten bekommen.

Deswegen endet der Wettbewerb um die besten Mitarbeiter auch nicht nach der Vertragsunterschrift: Balke veranstaltet Partys im Werkshof, bei denen sich Angestellte und zukünftige Kollegen schon vorher beim Drink kennen lernen können. Wer sich wohlfühlt, so die Hoffnung, bleibt länger.

Mitarbeiterbindung ist wichtig: Allein in South Carolina waren zuletzt mehr als 60.000 Stellen unbesetzt. Der Bundesstaat veranstaltet nun vor allem in ländlichen Gegenden Roadshows, auf denen sich auch Unternehmen wie Volvo und Mercedes, aber auch viele US-Unternehmen potenziellen Mitarbeitern vorstellen.

Firmen werden flexibler

"Es gibt einfach mehr offene Stellen in diesem Land als Leute für diese Jobs. Man kann nicht mehr einfach darauf warten, dass sie zu einem kommen", beschreibt die Lage Hugh Thomas, Partner der Onin Group in Alabama, die auf Personalsuche spezialisiert ist. Seine Mitarbeiter gehen in die Kleinstädte, besuchen dort Kirchen und lokale Feste. Höhere Löhne sind der nächstliegende Weg, Mitarbeiter zu locken. "Wenn sie sich über den Mangel beschweren, können sie zunächst einmal die Gehälter erhöhen", sagt auch der Arbeitsmarktökonom Jäger.

Vor allem die US-Einzelhändler haben das zuletzt auch getan. Walmart, Target, Costco und zuletzt auch Amazon haben alle ihre Mindestlöhne erhöht. "Wenn man die besten Leute gewinnen oder halten will, muss man mehr bieten als die Konkurrenz", hat es der Walmart-CEO Doug McMillon vor einiger Zeit auf den Punkt gebracht.

Außerdem sollten die Unternehmen verstärkt Gleitzeit, Teilzeit oder Telearbeit anbieten, um damit vor allem mehr Frauen zu gewinnen, rät Jäger. Denn diese Gruppe lege "im Durchschnitt höheren Wert auf Flexibilität".

Auch um Rentner bemühen sich Unternehmen inzwischen. "Sie arbeiten vielleicht 20 Stunden pro Woche, aber haben wertvolle und schwer ersetzbare Kenntnisse oder Kundenbeziehungen und können so auch in Teilzeit noch einen hohen Mehrwert schaffen", erklärt der Arbeitsmarktökonom Jäger.

Wenn das Potenzial der Jungen, der Rentner, der Veteranen und der Frauen ausgeschöpft ist, dann können die Unternehmen in strukturschwachen Regionen Ausschau halten, meint Jäger.

Denn während South Carolina oder Texas boomen, gibt es immer noch viele Gegenden im Rust Belt, dem einst von Industrie geprägten Mittleren Westen, wo der Aufschwung nicht angekommen ist. Zum Rust Belt gehören die Bundesstaaten Illinois, Indiana, Michigan, Ohio, Pennsylvania, West Virginia und Wisconsin. Doch selbst von dort ziehen die Menschen nicht mehr so leicht weg wie früher.

"Die Unternehmen könnten in Städten wie Buffalo ihre Fabriken oder Büros eröffnen, wo die Arbeitslosigkeit noch hoch ist", sagt Jäger. "Oder – wenn das zu kompliziert ist – sie könnten den Menschen ein Flugticket und ein Apartment anbieten, damit sie doch dorthin ziehen, wo die Jobs sind."


Quelle: Handelsblatt, handeslblatt.com, 12.01.2019