Wenn Saudis arbeiten müssen

Mit dem Wohlfahrtsstaat ist es vorbei: In Saudi-Arabien stehen Bildungssystem und Arbeitsmarkt vor einer riesigen Aufgabe. Die Bürger des Landes sollen die Aufgaben übernehmen, die bislang Ausländer machen. Geht das?

Saudi-Arabien steht vor der größten Transformation seiner Geschichte. Vorbei sind die fetten Jahre, in denen sich das Königreich einen üppig ausgestatteten Wohlfahrtsstaat leisten konnte. Heute diktiert der saudischen Führung nicht nur der niedrige Ölpreis den Auftrag, vom Erdöl unabhängig zu werden und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen. Noch größer ist der demographische Druck der schnell wachsenden Bevölkerung: Jedes Jahr kommen, so das saudische Arbeitsministerium, 350.000 junge Saudis auf den Arbeitsmarkt. Der öffentliche Dienst, mit 3,3 Millionen beschäftigten Saudis schon lange überbesetzt, kann sie nicht weiter aufnehmen. Daher bleiben zwei Optionen: Entweder sie finden Arbeit in der Privatwirtschaft, die schlechter zahlt und eine höhere Wochenarbeitszeit hat, oder sie werden selbständig.

Die Herausforderung, Arbeit für junge Saudis zu schaffen, steht im Mittelpunkt der "Vision 2030", die mit dem Namen des stellvertretenden Kronprinzen Muhammad Bin Salman Al Saud verbunden ist. Gelingt sie, steht Saudi-Arabien auf sehr stabilen Beinen; scheitert sie, ist die Stabilität des Königreichs gefährdet. Dann stiege die Arbeitslosigkeit, die bei neun Prozent liegt, stetig.

Noch vor wenigen Jahren hatten erst 750.000 Saudis in privaten Unternehmen gearbeitet. "Heute sind es bereits 1,8 Millionen, und 2020 sollen es drei Millionen sein", sagt Arbeitsminister Ali Nasser al Ghafis. Frauen stellen schon ein Drittel der 1,8 Millionen. Danach soll bis zum Jahr 2030 ein noch größerer Sprung kommen. Denn die "Vision 2030", die vor einem Jahr vorgestellt worden war, formuliert als Ziel, vier Millionen neue Arbeitsplätze für saudische Bürger in der Privatwirtschaft zu schaffen. Damit würden in privaten Unternehmen fast doppelt so viele Saudis wie im Staatsdienst arbeiten. Was vor noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

"In zehn Jahren werden sie nach und nach die Expats ersetzen"

Um das zu erreichen, fährt die saudische Regierung zweigleisig. So sollen Saudis nach und nach die neun Millionen Expats ersetzen, also die ausländischen Arbeitnehmer, die vor allem aus Indien und Pakistan kommen. Wie sie sollen dann auch Saudis manuelle Arbeiten verrichten. Das Land will zudem in wachsende Branchen investieren, in denen neue Arbeitsplätze entstehen.

Wie das funktionieren soll, zeigt das College für Luftfahrttechnik in Riad, wo 1.700 männliche Saudis zu Luftfahrttechnikern ausgebildet werden. Im ersten Jahr lernen sie nur Englisch; in den zwei Jahren danach werden sie in einem Umfeld, das ihren künftigen Arbeitsbedingungen entspricht, zu Technikern für die zivile Luftfahrt oder aber für die saudische Luftwaffe ausgebildet. Die ersten Abschlüsse wird es im März 2018 geben.

"In zehn Jahren werden sie nach und nach die Expats ersetzen", sagt Colin Jameson, der australische Direktor des College. Heute warten und reparieren noch meist Ausländer die Flugzeuge. Jameson sieht auch große Chancen, dass Saudi-Arabien vom Wachstum der Luftfahrt profitiert und sein College so die Zahl der Absolventen steigern muss, was auch dem College Chancen eröffnet. "Denn wir wollen in der Golfregion das führende Ausbildungszentrum für die zivile Luftfahrt und die Luftwaffe werden", sagt Jameson, der aus dem australischen Queensland stammt, wo er vor vielen Jahren begonnen hatte, für Saudi-Arabien Luftfahrttechniker auszubilden.

Einer seiner Schüler ist in Riad der 23 Jahre alte Faisal Abu Nazil. Nicht im blütenweißen Gewand der Saudis, dem Thoub, kommt er zum College, sondern im blauen Hemd mit blauer Hose. Zunächst habe er Betriebswirtschaft studiert, sagt Faisal. Die Universität hat er aber verlassen. Er wolle ja nicht den ganzen Tag im Büro sitzen und zu Hause habe er mit seinem Vater zusammen schon Autos repariert. Und natürlich: In der Luftfahrttechnik verdiene man gut, und ein Einstiegsgehalt von umgerechnet 2.000 Euro wolle er schon.

Neben ihm steht der 21 Jahre alte Azzam Zahrani. Er findet Flugzeuge einfach cool und will an ihnen arbeiten. Später hofft er, wenn er einmal weiß, wie ein Flugzeug funktioniert, dann auch Pilot zu werden. Disziplin? "Nicht schwierig für mich", sagt der junge Mann gutgelaunt. "Man muss nur früh aufstehen und eine Leidenschaft für Flugzeuge haben."

Am College sagen die meist amerikanischen Lehrer, dass die saudischen Studenten genauso fähig seien wie Studenten in anderen Ländern auch. Bei zwei Punkten gebe es aber Defizite: bei der Vermittlung der Lerntechniken und bei der Disziplin. "Sie müssen verstehen, dass sie Disziplin brauchen, um in einem technischen Umfeld zu arbeiten", sagt der Direktor Jameson. Er ist zufrieden. "Das System funktioniert ziemlich gut." Wer zu spät kommt, muss in der Verwaltung vorsprechen und wird verwarnt, der Vater wird per Kurznachricht informiert. Auf die dritte Verwarnung folgt die formale vierte Verwarnung, danach wird die Person von der Schule verwiesen.

Zwar vermitteln die Lehrer im Klassenraum Theorie. Die praktische Arbeit steht aber im Vordergrund. "Sobald sie mit einem Flugzeug zu tun haben und mit einer Turbine, ist ihr Interesse da", sagt Jameson.

Das Luftfahrt-College steht Frauen nicht offen

Das College für Luftfahrttechnik ist eines der 33 "Exzellenz-Colleges". Internationale Anbieter betreiben sie, an ihnen werden schon 18 000 Saudis ausgebildet. "Bezahlt werden die Anbieter in Abhängigkeit davon, wie viele Absolventen sie hervorbringen und wie viele von ihnen eine Stelle finden", sagt Ahmad al Fahaid, der Gouverneur der Gesellschaft für technische und berufliche Bildung.

Der Verband soll für junge Saudis eine Alternative zum Hochschulstudium entwickeln. Noch vor wenigen Jahren hatten sich mehr als neun Zehntel der Absolventen von Sekundarschulen für ein Studium an einer Hochschule entschieden. Eine Berufsausbildung hatten 2015 erst sieben Prozent eines Jahrgangs gewählt. "Heute sind es bereits 15 Prozent, 2030 sollen es 40 Prozent sein", sagt Fahaid. Einige Colleges wie das für Luftfahrt sind zunächst nur für junge Männer geöffnet, den jungen Frauen stehen aber schon viele andere Colleges offen.

Um das ehrgeizige Ziel zu erreichen, dass sich 40 Prozent eines Jahrgangs für eine berufsbildende Schule entscheiden, hat Fahaid neben den "Exzellenz-Colleges" weitere Schultypen entworfen. Ebenfalls neu sind 22 "Zentren für nationale strategische Partnerschaft" mit bisher 10.000 Schülern. Dort bewerben sich junge Saudis nicht für einen Platz am College, sondern direkt für einen Arbeitsplatz. Denn jedes College wird von einem namhaften Industriebetrieb unterhalten, etwa aus den Branchen Erdöl oder Chemie; so bilden sich die Unternehmen Nachwuchs heran. Jetzt will Fahaid die Zahl der 22 Zentren verdoppeln.

Die neuen Projekte ergänzen die klassischen 200 staatlichen Berufsfachschulen, an denen derzeit 150.000 Saudis ausgebildet werden. Neu ist jedoch das Programm, bei dem Schüler an Berufsfachschulen, die vor einem Abschluss stehen, in ihrer Stadt von jedem Bürger über eine App gerufen werden können, so dass sie Erfahrung und etwas Taschengeld sammeln können. Beliebt sind auch die neu eingerichteten Gemeinde-Colleges, in denen jeder Saudi in einem einwöchigen Kurs technische Fähigkeiten erwerben kann, die im Haushalt nützlich sind.

Bei der Entwicklung seines Berufsbildungssystems arbeitet Saudi-Arabien mit vielen Ländern zusammen. Zwei Länder gefallen Fahaid aber besonders: Singapur wegen der Planung für Humankapital und Deutschland wegen der hohen Akzeptanz der Berufsbildung in der Gesellschaft. In Saudi-Arabien ist sie noch gering, aber sie nimmt zu. Das Land hat auch keine Wahl, soll die Arbeitslosigkeit von neun Prozent, das sind 700.000 Saudis, nicht stetig steigen. Dazu müssen die Saudis aber nach und nach einen Teil der Arbeit übernehmen, die bislang die neun Millionen Gastarbeiter verrichten. Mit denen hatte sich Saudi-Arabien auch gespaltene Arbeitsmärkte ins Land geholt: Saudis arbeiten bei einem deutlich höheren Lohn weniger als die Expats.

Ehrgeizige Ziele für "Vision 2030"

"Nitaqat" heißt das Programm, mit dem das Arbeitsministerium seit 2012 den Anteil von Saudis an den Beschäftigten in der Privatwirtschaft erhöhen will – mit einem besonderen Schwerpunkt für Frauen. Ein Instrument ist die Berufsbildung, ein anderes ein System von Anreizen, bei dem Unternehmen, die mehr Saudis beschäftigen, bevorzugt werden, etwa bei der Erneuerung von Arbeitsgenehmigungen und Lizenzen oder bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

Das Programm wird nur erfolgreich sein, wenn sich die Löhne und Arbeitszeiten von Saudis und Ausländern angleichen. Daher wird es künftig weniger attraktiv sein, einen Ausländer einzustellen, da sein Arbeitgeber dann für jeden von ihnen eine jährliche Gebühr zahlen muss – was der Hälfte eines Niedriglohns entsprechen kann. Kräftig erhöht werden die Visagebühren. Diese Einnahmen fließen in einen Fonds, aus dem die bei einem privaten Unternehmen beschäftigten Saudis einen Ausgleich für den Unterschied zu den höheren Gehältern im öffentlichen Dienst erhalten. Weniger attraktiv wird die Einstellung eines Expats auch, weil der künftig nicht mehr an einen Arbeitgeber gebunden ist, sondern wechseln kann. Nicht ohne Widerstand wird das Vorhaben durchzusetzen sein, die wöchentliche Arbeitszeit in der Privatwirtschaft von 48 auf 40 Stunden zu reduzieren und die im öffentlichen Dienst von 35 auf 40 Stunden anzuheben.

Weitere Programme sollen den Anteil der Frauen an den Beschäftigten bis zum Jahr 2020 von derzeit 22 Prozent auf 28 Prozent erhöhen. Schon jetzt haben 300.000 saudische Frauen im Einzelhandel Gastarbeiter ersetzt. In ersten Provinzen dürfen nur noch saudische Frauen Kundinnen bedienen. Da sie immer noch nicht selbst Auto fahren dürfen, subventioniert der Staat ihre Fahrten, etwa mit dem Fahrdienst Uber, zur Arbeit. Frauen werden auch ermuntert, von zu Hause aus als selbständige Unternehmer zu arbeiten.

Viele Ziele der "Vision 2030" sind zu ehrgeizig angesetzt. Die saudische Gesellschaft wird sich aber verändern, selbst wenn nur ein Teil davon verwirklicht wird. Dann wird wieder vieles sein wie vor dem Ölboom, als die Saudis nicht beim Staat gearbeitet hatten, den es damals noch kaum gab, sondern bei privaten Unternehmen.


Quelle: Frankfurter Allgemeine, faz.net, 22.05.2017