Pilotprojekt in Vietnam: Berufsbildung made in Germany

Vietnams Wirtschaft wächst rasant. Doch es fehlen Fachkräfte. Jetzt ist die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild im Trend. Ein Schulbesuch mit der 21 Jahre alten Phan Thi Hai.

Phan Thi Hai hatte schon als Kind andere Pläne als die Mädchen in ihrem Alter. Ihre Freundinnen träumten von einem Arbeitsplatz in Büros mit Klimaanlagen oder von einer Karriere in der Welt der Mode und der Kosmetik. Phan wollte mit Maschinen arbeiten. Heute ist sie 21 Jahre alt und hat ihr Ziel erreicht: Sie trägt einen grauen Overall, ihre schwarzen Haare sind kurz geschnitten, die Lippen ganz dezent rot geschminkt. Konzentriert steht sie vor einem Gerät mit unglaublich vielen Schläuchen, Knöpfen und Kabeln, drückt auf einem Bildschirm herum und lässt einen Gegenstand, der aussieht wie eine Art Mini-Eishockey-Puck, in eine Röhre fallen. Der Computer piept, es verschieben sich ein paar Riegel, und die Scheibe plumpst auf ein Laufband. Dann wird sie auf eine von drei kleinen Rutschen gestoßen und landet mit einem lauten Klackern im Ziel.

Phan macht eine Ausbildung zur Mechatronikerin, die Übung an dieser Test-Abfüllanlage soll ihr beibringen, wie automatisierte Prozesse funktionieren. "Das ist das Beste an meiner Ausbildung", sagt Phan. "Direkt an Geräten arbeiten, wie sie auch in den Fabriken stehen."

Was in Deutschland dank der dualen Ausbildung in Berufsschule und Betrieb eine Selbstverständlichkeit ist, kommt im vietnamesischen Ausbildungssystem so gut wie nicht vor. An den rund 2000 Berufsschulen des Landes lernen die mehr als zwei Millionen Schülerinnen und Schüler viel trockene Theorie und wenig lebendige Praxis. "Die Berufsausbildung in Vietnam ist traditionell sehr verschult", sagt Jürgen Hartwig, Programmdirektor für Berufsbildung bei der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Vietnam. Im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützen Hartwig und sein Team die vietnamesische Regierung dabei, ein duales Berufsausbildungssystem nach deutschem Vorbild aufzubauen. In Vietnam zähle nur die akademische Ausbildung, ein Drittel der Schulabgänger trete außerdem sofort in den Arbeitsmarkt ein – meist in der Landwirtschaft oder im informellen Sektor. Was fehle, seien gut ausgebildete Fachkräfte.

Mehr Know-how für die Mitarbeiter

Nur 22 Prozent der vietnamesischen Erwerbsbevölkerung haben eine qualifizierte Berufsausbildung, die Zusammenarbeit zwischen Berufsschulen und Unternehmen läuft schleppend, die Lehrpläne sind veraltet. Für Vietnam wird das zunehmend zum Problem. Die Wirtschaft der 95 Millionen Einwohner großen südostasiatischen Nation läuft auf Hochtouren, wächst zwischen sechs und sieben Prozent je Jahr. Inzwischen gilt Vietnam nicht mehr als Entwicklungsland, sondern als Land mit niedrigen mittleren Einkommen. Die Kommunistische Partei plant den wirtschaftlichen Aufstieg auf dem Reißbrett: Überall entstehen neue Wirtschaftszentren, werden moderne Bürogebäude aus dem Boden gestampft und neue Straßen gebaut.

"Die Erfolgsstory Vietnams in Wirtschaft, Entwicklung und Armutsbekämpfung kann nur weitergehen, wenn Vietnams Unternehmen die Produktivität und das Know-how ihrer Mitarbeiter steigern – und dafür ist eine moderne und an den Bedarf der Wirtschaft ausgerichtete Berufsbildung unverzichtbar", sagt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Auch für die Attraktivität als Wirtschaftsstandort hat der Personalmangel Nachteile: "Investoren suchen nach Menschen mit Kompetenzen, die internationale Standards erfüllen, bis hin zu Industrie 4.0", sagt Hartwig. Vietnam ist unter ausländischen Konzernen sehr beliebt, der südkoreanische Elektronikkonzern Samsung etwa ist größter Arbeitgeber im Land.

Fündig könnten die Unternehmen bald in einer Berufsschule in der Provinz Dong Nai werden, dort, wo auch Phan ihre Ausbildung zur Mechatronikerin macht. Eine gute Autostunde von der Industriemetropole Ho-Tschi-Minh-Stadt (ehemals Saigon) entfernt liegt das Berufsbildungsinstitut Lilama 2, benannt nach einem vietnamesischen Baukonzern, der die Schule im Jahr 1986 gegründet hat. Seit dem Jahr 2016 ist die Einrichtung unabhängig.

Handwerkskammern qualifizieren Lehrpersonal

Durch den Lilama-2-Campus, der sich schon bald auf eine Fläche von 12 Hektar erstrecken und auch über ein Internat verfügen soll, führt eine achtspurige Bundesstraße. Knatternde Mopeds und vollbepackte Lkw brettern über den Asphalt, von der Brücke über der Straße sind im Dunst der Abgase die Umrisse der sich immer weiter ausdehnenden Stadtgrenze von Ho-Tschi-Minh-Stadt zu erkennen. Die Schulanlage selbst wirkt auf den ersten Blick nicht sonderlich lebendig. Nur wenige Schüler schlendern über den Platz vor dem bunt angestrichenen Hauptgebäude, drinnen liegen zwei auf einer Bank und schlafen. In einem mit rotbraunem Holz getäfelten Raum im ersten Stock aber herrscht freudige Aufregung: Ausländische Journalisten sind auf Einladung der GIZ zu Gast; die Schule will sich von ihrer besten Seite präsentieren.

Schulleiter Nguyen Khanh Cuong erzählt, welche Entwicklung das Institut in den vergangenen Jahren durchlaufen hat: "Wir waren eine arme Schule mit wenig Technik. Jetzt sind wir eine der besten Ausbildungsstätten des Landes. Ohne internationale Hilfe wäre das nicht möglich gewesen." Im Jahr 2014 startete die GIZ mit finanzieller Unterstützung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ihr Vorhaben, an der Schule ein duales Ausbildungsprogramm in den Berufen Elektroniker, Konstruktionsmechaniker, Mechatroniker und Zerspanungsmechaniker aufzubauen. Inzwischen lehren am Lilama 2 insgesamt 207 Ausbilder; sie unterrichten mehr als 4.500 junge Menschen, die meisten von ihnen machen eine drei- bis sechsmonatige Weiterbildung.

Das Lehrpersonal wird von den Handwerkskammern (HWK) in Erfurt und Potsdam dafür qualifiziert, das duale Berufsausbildungssystem nach deutschen Standards umzusetzen. Seit vergangenem Jahr werden sie auch in der Prüfungsabnahme geschult, achtzehn Ausbilder sind inzwischen von einer HWK anerkannt. Sie können nun, wie auch in Deutschland üblich, gemeinsam mit Vertretern der Partnerbetriebe Azubis nach deutscher Prüfungsordnung prüfen und ihnen zu einem vergleichbaren Abschluss verhelfen. Ob dieser auch in deutschen Betrieben anerkannt wird, ist damit aber noch nicht gesagt. Eine Sprecherin der HWK Erfurt bleibt vage. Essentiell seien jedenfalls Sprachkenntnisse auf B2-Niveau. Tatsächlich könnten die Lilama-2-Absolventen, wenn sie Deutsch lernen würden, auch in Deutschland arbeiten, sagt Jürgen Hartwig. Das sei jedoch nicht das Hauptziel des Programms. Auch das BMZ bestätigt: "Im Mittelpunkt der GIZ-Förderung steht der lokale Arbeitsmarkt und die Reform des Berufsbildungssystems in und für Vietnam."

Frauenmangel wie in Deutschland

Am Lilama 2 geht es vor allem um zwei Dinge: Zum einen soll eine an deutschen Standards orientierte, aber an vietnamesische Bedarfe angepasste berufliche Aus- und Weiterbildung angeboten werden. Dafür entwickelt die GIZ beispielsweise Lehrpläne, stellt technische Geräte bereit und sucht Partnerbetriebe. Inzwischen kooperiert die Schule mit 52 nationalen und internationalen Unternehmen, die die Azubis für einen Teil ihrer Ausbildung in ihre Betriebe aufnehmen. Zum anderen soll sich die Einrichtung zum Kompetenzzentrum nicht nur für Vietnam, sondern auch für Nachbarländer wie Kambodscha entwickeln. Denn nicht nur am Lilama 2 sollen Schulabsolventen dual ausgebildet werden, sondern bald in der ganzen Region.

In Vietnam ist die GIZ mittlerweile an 13 Einrichtungen aktiv, mehr als 21.000 neue Auszubildende werden jährlich gefördert. "Die Regierung Vietnams ist stark am deutschen dualen Berufsbildungsmodell interessiert", sagt Minister Müller. GIZ-Mann Jürgen Hartwig weist darauf hin, dass der Personalbedarf in Vietnam vergleichbar sei mit Deutschland. Und noch in einem weiteren Punkt sind sich die Bundesrepublik und Vietnam sehr ähnlich: "Wie in Deutschland sind nur 20 Prozent der technischen Auszubildenden weiblich, in manchen Klassen sind es noch weniger", sagt Hartwig.

Phan Thi Hai ist die einzige weibliche Auszubildende in ihrer Mechatronik-Klasse. Während ihre Mitschüler, die Ärmel ihrer Overalls hochgekrempelt, mit einem Lehrer über die Einstellung einer Übungsmaschine fachsimpeln, erzählt sie: "Ich fühle mich überhaupt nicht einsam. Meine Kollegen unterstützen mich, wenn zum Beispiel Körperkraft gefordert ist, und auch meine Lehrer achten besonders auf meine Bedürfnisse." Dank des Trainings, das sie in ihrer Ausbildung erhalte, sei sie sich sicher: "Ich kann genauso gut arbeiten wie die Männer." Um mehr Frauen für einen technischen Beruf zu begeistern, veranstaltet die GIZ die auch in Deutschland bekannten Girls' Days und vergibt Stipendien an Schulabgängerinnen.

Deutsche Unternehmen investieren

Diese und alle anderen Berufsbildungsmaßnahmen in Vietnam lässt sich Deutschland einiges kosten: Die aktuell laufenden und bislang geplanten Vorhaben haben dem Entwicklungsministerium zufolge ein Gesamtvolumen von rund 49 Millionen Euro. Gefördert würden mittelfristig vor allem "umweltrelevante" Ausbildungsberufe, etwa im Bereich der erneuerbaren Energien, und die Bereiche digitale Transformation, Industrie 4.0 und Berufsbildung 4.0.

Doch nicht nur die Bundesregierung, auch deutsche Unternehmen investieren in die Ausbildung vietnamesischer Fachkräfte am Lilama 2. Der Autohersteller Mercedes-Benz beispielsweise lässt dort Kfz-Mechatroniker dual ausbilden. Koordiniert und zertifiziert wird die 28-monatige Ausbildung, die zu 50 Prozent in lokalen Mercedes-Betrieben absolviert wird, von der Delegation der Deutschen Wirtschaft (AHK) in Vietnam. Mercedes stellt dafür Personal und Maschinen bereit, bezahlt den Azubis ein Ausbildungsgehalt, übernimmt ihre Schulgebühren und Wohnkosten. Das Programm ist zunächst auf einen Jahrgang ausgelegt, der im Oktober vergangenen Jahres begonnen hat.

Mercedes erhoffe sich von der Kooperation, Fachkräfte für sein Geschäft in Vietnam zu gewinnen, teilt die AHK auf Anfrage mit. Denn bislang gebe es keine standardisierte praktische Ausbildung für Fachpersonal, das mit moderner Mercedes-Benz-Technik umgehen könne. 2Deutsche Firmen in Vietnam investieren in der Regel nachhaltig und langfristig, so dass modernste Maschinen und Anlagen eingesetzt werden", sagt Marko Walde von der AHK Vietnam. Somit werde "echtes" Fachpersonal benötigt, das auf dem Arbeitsmarkt jedoch nicht zur Verfügung stehe.

Nicht nur Mercedes ist deshalb am Lilama 2 aktiv. Auch Siemens plant dort eine Entwicklungspartnerschaft im Bereich "Smart Manufacturing", das Bosch-Tochterunternehmen für Antriebs- und Steuerungstechnik Bosch Rexroth hat auf dem Campus ein Modell einer Fabrik der Zukunft installiert. Die Azubis, die hier die Arbeit an einer hochmodernen Fertigungsstraße erlernen, haben gute Aussichten, von dem Unternehmen für seine Produktion in Vietnam übernommen zu werden.

Überhaupt stehen die Chancen auf einen Arbeitsplatz für die Lilama-Absolventen sehr gut. Minister Müller zufolge beträgt die Beschäftigungsquote der Absolventen der 13 vom BMZ geförderten Berufsbildungsinstitute 87 Prozent, schon mehr als 120.000 Absolventen hätten einen Arbeitsplatz gefunden. Besonders in der Provinz Dong Nai können sich die Absolventen ihren zukünftigen Arbeitgeber ziemlich frei aussuchen: "Dong Nai ist eine Sonderwirtschaftszone, hier sind viele Maschinenbauunternehmen angesiedelt", sagt Hartwig. Und dann ist da noch ein Großprojekt, das gar nicht genug qualifizierte Arbeitskräfte finden kann: Unweit von Lilama 2 soll innerhalb der nächsten drei Jahre der neue Flughafen von Ho-Tschi-Minh-Stadt entstehen. 20.000 Arbeitskräfte werden gebraucht.

Die Schülerin Phan gehört zu dem ersten Jahrgang der vollständigen dualen Berufsausbildung im Fach Mechatronik. Sie hat nur noch die Abschlussprüfung vor sich. Die junge Frau rechnet fest damit, danach eine gute Stelle zu finden: "Ich kann wählerisch sein", sagt sie etwas verlegen. Am liebsten würde sie bei einem großen Unternehmen einsteigen – und, wie schon als Mädchen geplant, viel mit Maschinen arbeiten.


Quelle: Frankfurter Allgemeine, faz.net, 31.01.2020