Fachkräftemangel: Amerika feiert die "German Ausbildung"

In ganz Amerika fehlen vielen Unternehmen qualifizierte Fachkräfte. Firmen wie Bosch bilden dort junge Menschen nach dem deutschen System der dualen Ausbildung aus - mit großem Erfolg. Das US-Arbeitsministerium ist so begeistert, dass es die Stadt Charleston in South Carolina nun zur Modellregion für alternative Ausbildungsformen macht.

  • Von Claus Hulverscheidt, Charleston

Manchmal, wenn morgens um Viertel nach fünf der Wecker klingelte, schoss Stephanie Walters schon dieser Gedanke durch den Kopf: Muss das wirklich sein? Wäre es nicht schöner, gleich nach der Schule heimzufahren und mit den Freundinnen über Jungs und Musik zu quatschen? Stattdessen wusste der redselige Teenager aus South Carolina, dass der Tag mit dem letzten Highschool-Gong noch einmal von vorn beginnen würde: Weiterfahrt zum Trident College oder zur Bosch-Fabrik nördlich von Charleston, Mathe pauken, Baupläne zeichnen, Bremsanlagen zerlegen - und feilen, feilen, feilen. Oft war es neun oder zehn Uhr abends, wenn Walters völlig erschöpft nach Hause kam. Heute, nach zwei Jahren, sagt die 18-Jährige: "Es war großartig."

Walters hat diesen Sommer nicht nur die Schule mit Bravour abgeschlossen, sondern auch ihre Lehre bei Bosch. Damit ist die junge Mechanikerin wahrlich eine Exotin. Schon dass sie Highschool und Job-Training - zumal in einem typischen Männerberuf - parallel absolvierte, ist ungewöhnlich. Vor allem aber ist es in den USA immer noch die Ausnahme, dass jemand eine Lehre nach deutschem Muster absolviert - mit Ausbildung im Betrieb, Besuch der Berufsschule und Bezahlung. Normalerweise gehen Teenager zur Highschool, bis sie 18 sind, und dann zum College. Wer das nicht schafft, lässt sich irgendwo ein paar Monate anlernen und fängt dann an zu arbeiten: als Verkäuferin oder Friseurin, als Bulettenbrater oder Bauarbeiter.

Doch wie wenig das tradierte Ausbildungssystem der Vereinigten Staaten (US) mit einem immer anspruchsvolleren Job-Markt zusammenpasst, wird derzeit mit jedem Monat offensichtlicher. Die Arbeitslosenrate beträgt kaum mehr vier Prozent, im ganzen Land ist der Fachkräftemangel regelrecht mit Händen zu greifen. In Iowa etwa stehen Unternehmer bei den Fachhochschulen Schlange, um die besten Jungstudenten abzugreifen. Die Eisenbahngesellschaften BNSF Railway and Union Pacific zahlen Boni von bis zu 25.000 Dollar - nur damit Menschen bei ihnen anfangen. Und Firmen fragen bei der Wahl neuer Fertigungsstätten oft nicht mehr nach örtlichen Steuersätzen, sondern zuallererst nach qualifizierten Arbeitskräften.

Doch Boni allein werden nicht reichen, um die Stellen der Zukunft zu besetzen - das schwant Politikern, Unternehmen und Eltern gleichermaßen. Eine wichtige Rolle bei dem Umdenkprozess spielen Firmen aus der Bundesrepublik, die bei der Gründung ihrer US-Töchter nicht nur deutsche Ingenieurskunst, Gründlichkeit und Traditionen mitbrachten - das elende Feilen etwa -, sondern auch das duale Ausbildungssystem. Die Idee ist auch für Amerikaner so bestechend, dass sich zwei so grundverschiedene Menschen wie Barack Obama und Donald Trump schon dafür begeistern konnten. Weil der Wandel aber nur schleppend in Gang kommt, hat das Washingtoner Arbeitsministerium jetzt nicht zufällig Walters Heimat Charleston - zugleich US-Stützpunkt für Firmen wie Bosch, Daimler, BMW, IFA und Evonik - zur "nationalen Modellregion für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung" erkoren.

Als Bosch vor fast 50 Jahren nach South Carolina kam, war an eine Nachwuchsförderung deutscher Couleur zunächst nicht zu denken. Schon der Gedanke einer bezahlten betrieblichen Ausbildung erschien US-Firmen abwegig, denn Fitmachen für den Beruf, das war und ist für manche Manager bis heute nicht die Aufgabe des Betriebs, sondern der Schulen und des Einzelnen. Lange war das ja auch gut gegangen: Die Führungskräfte wurden an den Universitäten rekrutiert, die einfachen Jobs erledigten angelernte Arbeiter. Dass der komplette Mittelbau fehlte, fiel erst auf, als einfache Jobs zunehmend ins Ausland abwanderten und die verbleibenden Stellen immer anspruchsvoller wurden. Heute hält jede zweite US-Firma den Fachkräftemangel für problematischer als etwa die Bürokratie oder die mangelhafte Infrastruktur.

1976 begann Bosch damit, in Eigenregie eine Ausbildung nach Vorbild des Stuttgarter Mutterkonzerns aufzuziehen. Als "Berufsschule" gewann man das nahe gelegene Trident College, das bald erste, speziell auf Bosch-Azubis zugeschnittene Kurse anbot. Heute, gut 40 Jahre später, machen alle 16 Technischen Hochschulen des Bundesstaats beim Programm "Berufsausbildung Carolina" mit. Mehr als 28.000 Arbeitnehmer haben seither eine Lehre absolviert, wobei die meisten der beteiligten etwa 1.000 Firmen nicht zwischen Aus- und Weiterbildung unterscheiden. Das Gros der "Lehrlinge" sind Mitarbeiter, die schon länger im Betrieb arbeiten. Angebote für Teenager, die wie Walters während oder sofort nach Abschluss der Highschool mit der Ausbildung beginnen, machen bisher erst etwa ein Fünftel aller Angebote aus.

Vor allem die Eltern der Jugendlichen müssen überzeugt werden

Zu den eifrigsten Unterstützern der Ausbildungsoffensive zählt Bryan Derreberry, Präsident der Charlestoner Handelskammer. "Begabung ist das Öl des 21. Jahrhunderts", sagt er. "Wir müssen es fördern!" Doch es sind nicht nur die Firmen, die überzeugt werden wollen, es sind auch die Jugendlichen selbst - und vor allem ihre Eltern. Viele Mütter und Väter nämlich setzen nach wie vor alle Hebel in Bewegung, um ihre Kinder an einem guten College unterzubringen. Fabriken dagegen gelten als dreckig und als Arbeitsstätte der Armen und Gescheiterten. Die Vorstellung, dass moderne Fertigungsstätten heute eher klinisch sauberen Operationssälen gleichen, ist Eltern oft ebenso fremd wie der Gedanke, dass eine Lehre manchem Teenager womöglich bessere Chancen auf einen sozialen Aufstieg bietet als der Besuch eines finanzschwachen staatlichen Colleges. "Als ich meiner Mutter sagte, dass mir das Studium keinen Spaß macht und ich eine Ausbildung anfangen will, war sie zunächst strikt dagegen", sagt Thomas Holder, der via Facebook von einer freien Lehrstelle bei Bosch erfuhr. "Heute ist sie begeistert."

Die jungen Erwachsenen überzeugt oft schon die Aussicht, dass sie sofort fest angestellt werden und bis zu 800 Dollar Monatslohn erhalten. "Earn while you learn" - Verdiene, während Du lernst - lautet der griffige Slogan, den sich ausbildungswillige Firmen dafür ausgedacht haben. Es ist eine Perspektive, die regelrecht verwegen klingt, denn Ausbildung, das bedeutet für Amerikaner fast immer: Studienkredite in fünf- oder gar sechsstelliger Höhe - und beten, dass man im Anschluss einen Job findet, der die Rückzahlung möglich macht. Die besten Azubis dagegen, sagt Marc Fetten, Chef des Charleston International Manufacturing Center, heimsten bei entsprechender Weiterbildung und einiger Berufserfahrung sogar höhere Gehälter ein als viele Studierte. "Die verdienen sechsstellig und reparieren auch noch selbst ihr Haus", sagt Fetten. "Da können viele College-Absolventen nicht mithalten."

Mittlerweile, so erzählt Melissa Stowasser, Leiterin des Highschool-Azubi-Programms am Trident College, rufen schon die Eltern von Zwölf-, Dreizehnjährigen an, um sich nach dualen Ausbildungsmöglichkeiten zu erkundigen. Anders als noch vor wenigen Jahren, bietet die Hochschule nicht nur ausbildungsbegleitende Kurse in Mechanik, Maschinenbau und anderen Industrietätigkeiten an, sondern auch etwa für angehende Köche, Hotelfachangestellte, Hebammen, Kühltechniker und Buchhalter. Mittlerweile setzen sich selbst Top-Manager des Landes wie JP-Morgan-Chef Jamie Dimon für eine betriebliche Ausbildung sowie für eine Vereinheitlichung der unzähligen regionalen Programme ein.

Stephanie Walters, die junge Bosch-Mitarbeiterin, ist sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Nach Abschluss der Jugend-Ausbildung wird sie nun eine zweijährige Erwachsenenlehre beginnen, die ihr weitere Aufstiegschancen eröffnet. Daran anschließen soll sich ein Ingenieurstudium, das noch einmal zwei Jahre dauern und für das Bosch alle Gebühren übernehmen wird. Die gesamten vier Jahre über wird sie weiter im Betrieb arbeiten und Gehalt beziehen. "Mit 22 werde ich fertig sein und alle Möglichkeiten haben", sagt Walters, der die Worte nur so aus dem Mund purzeln. "Meine Freundinnen, die jetzt aufs College wechseln, werden dann mit einem Sack voll Schulden dastehen."


Quelle: Süddeutsche Zeitung, sueddeutsche.de, 30.08.2018