Deutsch-russisches Handbuch zur Berufsbildungskooperation veröffentlicht

Das zweiteilige Handbuch der deutsch-russischen Berufsbildungskooperation umfasst eine Übersicht der bilateralen Zusammenarbeit, praktische Hinweise und Unterstützungshilfen. Im Interview spricht GOVET mit den Autoren des ersten Teils über historische und aktuelle Gemeinsamkeiten beider Länder.

Die deutsch-russische Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung ist eine Erfolgsgeschichte. Beispiele in der Zusammenarbeit zahlreicher Institutionen und Organisationen sowie praktische Hinweise und Unterstützungshilfen für Unternehmen und Ausbildungsinteressierte wurden nun in einem zweiteiligen Handbuch der deutsch-russischen Berufsbildungskooperation gemeinsam erfasst.

Der erste Teil beleuchtet die gemeinsamen historischen Wurzeln der deutschen und russischen Berufsbildung. Er wurde verfasst von zwei führenden Berufsbildungsexperten beider Länder: Professor Volkmar Herkner, Leiter des Berufsbildungsinstituts Arbeit und Technik (biat) der Europa-Universität Flensburg und Professor Vladimir Blinov, Leiter der Abteilung Berufsbildung des Föderalen Instituts für Bildung (FIRO) an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der russischen Föderation (RANEPA).

Während Vladimir Blinow recherchierte, wie sich die deutsche Berufsbildung und Berufsbildungsforschung in der Sowjetunion und in Russland entwickelte, fokussierte Volkmar Herkner vor allem die Wahrnehmung der sowjetischen und russischen Berufsbildung und Berufsbildungsforschung in der Bundesrepublik. Beide Autoren führten ihre Studien in Deutschland und Russland unabhängig voneinander zum gleichen Thema und über den gleichen Zeitabschnitt.#

Im Interview sprach Dr. Hannelore Kress, GOVET, mit dem Autorenteam über historische Gemeinsamkeiten, aktuelle Herausforderungen und offene Forschungsfragen.

Waren Sie überrascht über die Anfrage von GOVET, einen etwas ausführlicheren Artikel zu den deutsch-russischen Wurzeln der Berufsbildung zu verfassen?

Professor Herkner: Sicherlich kam die Anfrage überraschend. Zu bestimmten geschichtlichen Themen – Genese der deutschen Berufsordnung, Zustandekommen des Berufsbildungsgesetzes von 1969, Berufsbildung in der DDR etc. – kommen schon mal Anfragen, aber ebenfalls eher selten, weil geschichtliche Themen einen schweren Stand im Kampf um Aufmerksamkeit haben, da offenbar das Denken vorherrscht, mit ihnen könnte man ja ohnehin keine Probleme der Gegenwart und Zukunft lösen. Eine Anfrage zu einem derart speziellen Thema kam sogar sehr überraschend. Und ganz ehrlich: Anfangs herrschte große Skepsis bei mir vor, ob man dazu überhaupt ausreichend relevante Informationen finden und dann sogar noch Entwicklungslinien nachzeichnen könne.

Professor Blinov: Die Bitte von GOVET, einen Artikel über die deutsch-russischen Wurzeln der Berufsbildung zu schreiben, hat mich nicht überrascht. Es lohnt sich auch in dieser sehr schnellen Zeit, auf die gemeinsame Entwicklung der beruflichen Bildung und Ausbildung in historischer und pädagogischer Sicht zu blicken. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die nächste Generation jedes Mal versucht, von vorne zu beginnen. Ein Rückblick ist notwendig für diejenigen, die versuchen, das Rad neu zu erfinden, ohne zu wissen, dass das, was heute passiert, nur eine Fortsetzung dessen ist, was gestern passiert ist.

Wo liegen Ihrer Forschung nach die historischen Gemeinsamkeiten in der Entwicklung der Berufsbildung in Deutschland und Russland?

Professor Blinov: Die Entwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Deutschland und Russland hat einen einzigen systembildenden Kern - die Zusammenarbeit von Industrie und Bildung bei der Lösung der Probleme der Personalausbildung. Die historische Erfahrung zeigt, dass die humanitären Interessen der Bildung und der Personalbedarf der Arbeitgeber harmonisiert werden können. Die Qualität der beruflichen Bildung ist direkt proportional zur Produktivität der Interaktion zwischen der Arbeitswelt und dem Bildungsbereich. Die Suche nach für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen für die Zusammenarbeit von Bildung und Produktion in beiden Ländern ist ein zentrales Thema, sowohl für wissenschaftliche Erkenntnisse als auch für die Entwicklung der beruflichen Bildungspraxis.

Professor Herkner: Man könnte erst einmal denken, dass es gar keine Gemeinsamkeiten geben würde, weil die Berufsbildungssysteme beider Länder zu unterschiedlich seien. Doch man findet rasch Verknüpfungen. Auch ohne große Recherchen werden den deutschen historisch arbeitenden Berufsbildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern relativ schnell Viktor Della-Voss und Heinrich Abel einfallen. Della-Voss ist der Russe, der in der Moskauer Ingenieurausbildung die Lehrgangsmethode entwickelte, die von den Deutschen mit großem Eifer und viel Erfolg im Ingenieurbereich, aber noch mehr in der Lehrlingsausbildung der Industrie aufgegriffen, weiterentwickelt und flächendeckend – wenn man so möchte als erstes Mittel zur Berufsordnung – angewandt wurde. Und Abel, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war und später an der TU Darmstadt beinahe legendär einen berufspädagogischen Lehrstuhl übernahm, machte in der Bundesrepublik den anerkennenden Blick auf das sowjetische Bildungs- und Berufsbildungssystem in der Zeit des Kalten Krieges salonfähig. Nur erwähnen kann ich hier zudem das besondere Verhältnis in der Berufspädagogik der UdSSR und der DDR – ein spannendes Thema, das forschungsseitig noch zu bearbeiten wäre.

Welches gemeinsame Verständnis haben beide Länder bezüglich der "Facharbeiterbildung"?

Professor Herkner: Ich weiß gar nicht, ob es ein so großes "gemeinsames Verständnis" gibt. Während man wohl in Russland und in sowjetischer Tradition eher von "Facharbeitern" und "Facharbeiterausbildung" spricht, sind diese Begriffe in der Bundesrepublik nach meinen Eindrücken durch den umfassenden Begriff der "Auszubildenden" und das Vorhandensein von Gesellen und Fachangestellten eher in den Hintergrund getreten. In beiden Ländern hat man aber das Problem, die gesellschaftliche Anerkennung der nicht-akademischen Berufsbildung zu stärken. Allerdings handelt es sich dabei keineswegs um russische und deutsche Besonderheiten. Mir scheint in dem Kontext, dass Russland hier noch stärker in Richtung der asiatischen Extreme tendiert, wo sich Jugendliche und junge Erwachsene beispielsweise in China, Japan und Südkorea mit dem Gefühl in der nicht-akademischen Berufsbildung befinden, einen unheilvollen Weg zum "gesellschaftlichen Verlierer" zu bestreiten. Gleichwohl: Eine Gemeinsamkeit liegt offenbar schon darin, dass zumindest der jeweiligen nationalen Politik die Bedeutung der nicht-akademischen Berufsbildung – nennen wir sie "Facharbeiterbildung" – für den wirtschaftlichen Erfolg des jeweiligen Landes deutlich ist.

Professor Blinov: Das Konzept der Qualifikation ändert sich, weil es ja von der Wirtschaftsentwicklung abhängt. Diese Entwicklung unterliegt sowohl in Deutschland als auch in Russland unterliegt globalen Trends. Das Verständnis des Prozesses und des Ergebnisses der "Ausbildung von Fachkräften" ändert sich im gesamten historischen Prozess. Der allgemeine Trend ist die zunehmende Rolle des Menschen selbst in diesem Prozess, beginnend mit der anfänglichen Berufswahl und endend mit der fortwährenden Verlauf der beruflichen Entwicklung. Das Verständnis von Qualifikationen als Bereitschaft für eine bestimmte Produktionstätigkeit, als Besitz einer Reihe spezifischer Kompetenzen, gehört der Vergangenheit an. Die Bereitschaft zum Berufsleben unter sich ändernden Bedingungen, die Bereitschaft zur ständigen Selbstentwicklung und Anpassung ist ein moderner Trend des Qualifikationskonzepts. Die berufliche Bildung und Ausbildung, die sich auf die Bildung von Qualifikationen konzentriert, wird zu einem sozialen Phänomen, das die Qualitäten eines Menschen prägt, der für seine Selbstentwicklung verantwortlich ist und das seine berufliche Selbstentwicklung während seines gesamten Lebens begleitet.

Was ergibt sich Ihrer Meinung nach in der zukünftigen Zusammenarbeit oder/und Forschung?

Professor Herkner: Für beide Länder ergibt sich aus dem Vorhergesagten zwangsläufig, dass an Strategien zu arbeiten ist, um das gesellschaftliche Ansehen der nicht-akademischen Berufsbildung zu stärken. Sie ist alles andere als eine "Notlösung für Verlierer". Aus deutscher Sicht sind darüber hinaus einige Dinge mit Blick auf Russland besonders interessant, etwa die Rolle der Polytechnik oder angesichts von Entfernungen und Einwohnerdichte die Beschulung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ländlichen Gegenden, und das bei einem ausdifferenzierten Angebotssystem. Ich könnte mir vorstellen, dass aus russischer Sicht man sehr daran interessiert ist, wie das deutsche Duale System in der Kooperation von Schule und Betrieb funktioniert. Aber das kann der Kollege Vladimir Blinov sicherlich besser beurteilen als ich.

Professor Blinov: Meiner Meinung nach befinden wir uns bereits in einem natürlichen Raum für die Zusammenarbeit mit den gemeinsamen Interessen, Aufgaben oder Problemen. Die gegenseitige Unterstützung im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung hing, wie die historische Erfahrung zeigt, immer vom Umfang der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ab. Optimismus inspiriert eine Fülle von Herausforderungen für die technologische Entwicklung, mit denen sowohl Russland als auch Deutschland konfrontiert sind. Das Zeitalter der Hochtechnologie wird zwangsläufig eine Erhöhung des Bildungsniveaus aller im Bereich der Fachkräfte Beschäftigten erfordern. Es ist natürlich ratsam, diese äußerst schwierige Aufgabe gemeinsam zu lösen, indem man sich auf neue Ideen und Erfahrungen stützt.

Wie schätzen Sie abschließend allgemein den Blick zurück in die Geschichte im Kontext der Berufsbildungsforschung ein? Ein "unbestelltes" Feld?

Professor Herkner: Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die Bereiche der historischen Berufsbildungsforschung intensiv bearbeiten. Doch leider ist die Akzeptanz solcher Forschungsarbeiten oft nicht besonders groß. Insbesondere kann man kaum Drittmittel einwerben, weil eben Drittmittelgeber darin keinen Nutzen für heutige Problemsituationen erkennen, weshalb die historische Berufsbildungsforschung insgesamt einen schweren Stand hat. Dabei zeigt dieses Beispiel des deutsch-russischen Verhältnisses auf den Gebieten von Berufsbildung und Berufsbildungsforschung, dass es erstens spannend und nicht zu trennen von der "großen Politik" bzw. der "großen Geschichte" und dadurch – wenn man so möchte – auch allgemeinbildend ist, dass es zweitens noch immer ergiebig und insofern ein noch unvergebenes Dissertationsthema ist und dass es drittens durch die Geschichte der beteiligten Länder, einschließlich der DDR, viele Facetten gibt, die bei diesem Thema interessant erscheinen. Von daher könnte man sagen: Es gibt zumindest noch viele "unbestellte" Felder ...

Professor Blinov: Beschweren Sie sich nicht über den Pragmatismus des modernen Menschen, der sich selten der Geschichte als Wissensquelle zuwendet. Vielleicht lauert hier ein kulturelles Problem. Wenn der Fachkultur die Fähigkeit zur Rückschau als notwendiges Element des professionellen Denkens fehlt, werden sich Anzahl und Häufigkeit der Erinnerungen an die Geschichte nicht wesentlich ändern. Die praktische Ebene zur Lösung dieses Problems liegt im Bildungsbereich. Besonders das höchste Management und pädagogische. Wir brauchen neue Ansätze und den Inhalt der historischen Bildung als Teil der Ausbildung von Fachleuten in bestimmten Bereichen.

Weitere Information

GOVET ♦ Deutsch-russisches Handbuch zur Berufsbildungskooperation veröffentlicht

  • Hintergründe und Entwicklungen der deutsch-russischen Zusammenarbeit in der Berufsbildung
  • Handbuch der deutsch-russischen Berufsbildungskooperation zum Herunterladen: Teil 1, 209 Seiten (Anfang bis Seite 106 in Russisch, Seite 107 bis Ende in Deutsch), Teil 2 folgt in Kürze

Quelle: GOVET – Zentralstelle der Bundesregierung für internationale Berufsbildungskooperation, govet.international, 06.08.2020