Ausbildung "German style" – so wollen die Briten eine Lücke im System schließen

Seit Jahren bleibt das Produktivitätswachstum in Großbritannien hinter den Erwartungen zurück – auch weil berufliche Fertigkeiten fehlen. "T-Levels" und "Apprenticeships" sollen das ändern. Experten geht das jedoch nicht weit genug.

Leonard Koltun ist begeistert. Croydon College im Süden Londons und das Angebot eines Schulabschlusses mit Schwerpunkt Elektrotechnik ist genau, was sich der 16-Jährige vorgestellt hat. Davon ist er nach der Besichtigung überzeugt. "Kunst ist eigentlich mein Lieblingsfach. Aber ich sehe nicht, wie ich das beruflich einsetzen kann", sagte der Schüler, der sich gerade auf den General Certificate of Secondary Education (GSCE)-Abschluss vorbereitet, vergleichbar der mittleren Reife. An praktischer Arbeit habe er Spaß, Elektrotechnik interessiere ihn sehr und weitere zwei Jahre rein akademische Ausbildung locken ihn nicht. "Zudem habe ich mit diesem Schwerpunkt sicher gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt."

Premierminister Boris Johnson und seine Regierung setzen darauf, dass in Zukunft deutlich mehr junge Menschen so denken wie der junge Mann und Wert legen auf eine stärker praxisorientierte Ausbildung. Seit dem vergangenen Jahr gibt es daher die sogenannten T- Levels, eine Art zweijährige Sekundarstufe II. Der Fächerkanon ist praktischer ausgerichtet als die typischen A-Levels mit drei oder vier Schulfächern, die auf ein Hochschulstudium vorbereiten.

Die Ausrichtung ist nicht ausschließlich technisch, sie reicht von Agrar- und digitaler Wirtschaft über Gesundheitswissenschaft und Rechnungswesen bis zu Bau und Personal. Sukzessive werden in den kommenden Jahren neue Schwerpunkte eingeführt. Der Unterricht vermittelt theoretische und praktische Fertigkeiten des Berufsbildes. Ergänzt werden die Schultage durch mindestens 45 Tage Berufspraxis in einem Unternehmen.

Daneben bieten sich britischen Schulabgängern seit einiger Zeit mehr und mehr Optionen für eine berufliche Ausbildung, sogenannte Apprenticeships. Diese gleichen eher einer deutschen Berufsausbildung, unterscheiden sich aber je nach Ausrichtung doch deutlich.

Einige erlauben einen Abschluss nach zwölf Monaten, andere erstrecken sich über drei Jahre. Alle zeichnen sind durch einen hohen Praxisanteil aus.

Das Vorbild für die berufliche Bildung ist eindeutig: Ein "Weltklasse-System, German style" hatte Gavin Williamson, bis Mitte September Bildungsminister, immer wieder angekündigt. Es soll helfen, die großen regionalen Unterschiede des Lebensstandards im Land abzumildern. Schülern soll es neue Perspektiven eröffnen und die Wirtschaft mit händeringend gesuchten Fachkräften versorgen, machte die Regierung in einem Weißbuch aus dem Januar klar.

Nach Deutschland und auf das duale Ausbildungssystem werfen die Briten längst nicht zum ersten Mal den Blick. 1896 folgerte eine Delegation von Geschäftsleuten, die aus Manchester angereist war, um sich vor Ort umzusehen, dass in der technischen Bildung Deutschlands eine entscheidende Wurzel des wirtschaftlichen Erfolgs läge.

Höchste Zeit sei es, der eigenen Jugend ein ähnliches Bildungsangebot zu unterbreiten. Gut zwanzig Jahre später warnte der renommierte Volkswirt Alfred Marshall erneut, dass den Briten genau jene technische Bildung fehle, mit der Deutschland die mittleren Dienstränge seiner Unternehmen fülle.

Zwischenzeitlich haben diese Appelle gewirkt. Noch Anfang der 1960er-Jahre machte rund ein Drittel aller Jungen, die die Schule verließen, eine Ausbildung. Doch dann zogen sich immer mehr Unternehmen zurück, boten keine Stellen mehr an. Seither steht berufliche Ausbildung im langen kulturellen Schatten der Universitäten.

An den eher bescheidenen Ausprägungen von Lehre und praxisorientierten und technischen Bildungswegen wird seit Jahren gespart. Gerade einmal vier Prozent der 25-Jährigen haben laut dem Augur Report von 2019, einer umfassenden Untersuchung zur nachschulischen Bildung, einen beruflichen Abschluss als höchste Qualifikation. Der Anteil ist in den vergangenen Jahren weiter zurückgegangen. In Deutschland liegt der Vergleichswert bei 20 Prozent.

Viele Ansätze der überarbeiteten Ausbildungsangebote seien sehr positiv, sagt Sandra McNally, Professorin für Volkswirtschaft an der University of Surrey und Direktorin des Centre for Vocational Education Research, einer Denkfabrik, die sich mit beruflicher Bildung beschäftigt. "Eine der Schwächen unseres Systems ist das Fehlen von beruflichen Fertigkeiten im mittleren Bereich. T-Levels bieten da ein sehr gutes Angebot."

Sie verweist auf die volkswirtschaftlichen Probleme, die mit diesem Mangel verknüpft sind. Seit Jahren bleibt das Produktivitätswachstum im Land hinter den Erwartungen zurück. Neue Bildungskonzepte und der Aufbau von Fertigkeiten könnten helfen, das Problem anzupacken.

Auch der Brexit spielt eine Rolle: "Das Verlassen auf Arbeitskraft aus dem Ausland stößt jetzt an seine Grenzen." Der Klimawandel sei als Anstoß ebenfalls nicht zu unterschätzen, viele der Jobs, die in grünen Branchen entstehen sollen, sind technisch ausgerichtet.

Unternehmen schaffen selbst Abhilfe

Eine ganze Reihe von Unternehmen haben längst selbst Abhilfe geschaffen. Seit Jahren bildet der Sicherheits- und Luftfahrtkonzern BAE Systems aus. Rund 2000 junge Menschen seien aktuell in Ausbildung, sagte Richard Hamer, Direktor Ausbildung.

Schweißer und Installateure gehören dazu, aber auch Ingenieure, zum Beispiel für Nuklear-, Luft- und Raumfahrttechnik. Dafür kooperiere BAE Systems mit Universitäten. "Deren Angebote sind für unseren Bedarf allerdings häufig zu breit."

Ein knappes Dutzend Ausbildungsprogramme habe der Konzern vor zehn Jahren im Angebot gehabt. "Inzwischen sind es mehr als 50." Der Erfolg gibt BAE Systems recht: 95 Prozent der Auszubildenden machen ihren Abschluss, und sie bleiben dem Konzern treu.

"Neun von zehn sind auch zehn Jahre nach Ausbildungsende noch bei uns." Dabei helfe nicht zuletzt die Wertschätzung im Konzern. Viele Führungskräfte haben ihre Karriere bei BAE Systems als Azubis gestartet. Doch auch Hamer lässt keinen Zweifel: "Die Zahl der Auszubildenden ist längst nicht hoch genug, um den Bedarf der Industrie zu decken."

Die Hoffnung auf Produktivitätszuwächse und eine regionale Angleichung, die seit Jahren hohe Nachfrage von Unternehmen sind längst nicht die einzigen Auslöser für die geplante Neuausrichtung des Bildungssystems. Die Kosten spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Studierende zahlen in Großbritannien bis zu 9250 Pfund (10.952 Euro) Studiengebühren im Jahr. Nur in Schottland ist die akademische Ausbildung für Landeskinder kostenfrei. Zur Finanzierung stehen den Studierenden Kredite zur Verfügung, die Rückzahlung beginnt, wenn Berufseinsteiger mehr als 27.295 Pfund verdienen.

Im Schnitt laufen für Uni-Absolventen 45.000 Pfund Schulden auf.

Eine qualifizierende technische College-Ausbildung, die 4.850 Pfund im Jahr kostet und kürzer ist, kommt da deutlich günstiger. Auch für die Regierung: Im Schnitt werden für jedes als Studiendarlehen ausgereichte Pfund nur 46 Pence zurückgezahlt, unter anderem weil die Absolventen die Verdienstschwelle nicht überschreiten.

25 Hochschulen gebe es im Land, bei denen weniger als die Hälfte der Studienanfänger eines Tages einen Job antritt, der ihrem akademischen Grad entspricht, hatte der damalige Bildungsminister Williamson vor einer Weile bei einer Hochschulrektorenkonferenz geschimpft. Komplett untragbar sei das. Auch sein Nachfolger Nadhim Zahawi hat sich die Förderung der beruflichen Bildung auf die Fahne geschrieben, um die Lücken im System zu schließen.

Unis bleiben erste Wahl

Geburtenstarke Jahrgänge schaffen ein weiteres Finanzierungsproblem. So würden bis 2025 pro Jahr zusätzlich knapp 40.000 Bachelor- Studierende dazukommen, wenn der gleiche Anteil Schulabgänger an die Universitäten strebt. Bestehende Bildungseinrichtungen müssten deutlich ausgebaut werden, womöglich neue dazukommen.

Die Universität bleibt für viele Schüler die erste Wahl, wenn ihre Noten es erlauben. "Snobismus, eine abwertende Meinung gegenüber technischen Jobs sind nach wie vor ein Problem", verweist McNally auf eine Einschränkung für die Bildungspläne. "Aber die Wahrnehmung hat sich verbessert."

Hamer bestätigt erhebliches Interesse am Ausbildungsprogramm von BAE Systems. Mehr als 10.000 Bewerber kommen auf die rund 800 Stellen, die jedes Jahr ausgeschrieben werden. Nicht zuletzt die hohen Kosten einer akademischen Ausbildung würden zahlreiche Familien deren Wert überdenken lassen. "Und es wird klar, dass sinnvolle Fertigkeiten und ein gutes Gehalt das Ergebnis einer Ausbildung sind."

Auch von anderen Firmen verzeichnet der Konzern erhebliches Interesse an seinem Ansatz, unter anderem aus der Automobil-, Motoren- und Luftfahrtindustrie und weiteren Branchen mit hohem Bedarf an Ingenieuren. Einige Bildungsprofile entwickle BAE Systems inzwischen in Kooperation mit anderen Konzernen.

Ein Selbstläufer wird der Wandel zu mehr beruflicher Bildung trotz wachsendem Interesse bei jungen Menschen und in der Regierung nicht werden. In vielen Fällen würden bis heute klare Berufsbilder und der entsprechende Ausbildungsweg fehlen, sagte McNally.

Viele Angebote seien sehr spezifisch, beinahe auf ein Unternehmen zugeschnitten. Tausende verschiedene Ausbildungen gebe es, entsprechend schwierig sei die Beurteilung von Nutzen und Einsatzmöglichkeiten. Zum Vergleich: 2020 wurden in Deutschland 324 anerkannte Ausbildungsberufe gezählt.

Nicht nur auf Berufsbildung fokussieren

"Viel hängt auch an der Finanzierung", so McNally. Weiterbildungsinstitute, die sich auch der Erwachsenenbildung annehmen, bieten viele der Kurse an. Doch seit 2010 wurden die staatlichen Mittel für diesen Bereich um ein Drittel gekürzt, belegen Daten der Denkfabrik Institute for Fiscal Studies.

Mit 3,5 Milliarden Pfund im Jahr entspricht das Budget derzeit gerade einmal den laufenden Kosten der renommierten Universitäten Oxford und Cambridge. Hinzu kommt, dass Lehrkräfte in den Bildungsstätten um ein Viertel schlechter bezahlt werden als an allgemeinbildenden Schulen.

Schließlich müssen die richtigen Qualifikationen gelehrt werden für die Jobs, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten anfallen, mit der nötigen Flexibilität, um auch neuen Bedarf zu befriedigen.

Der ausschließliche Fokus auf ein System der Berufsbildung greift dabei zu kurz. "Letztlich brauchen sie einen breiteren Kontext, eine gesamtwirtschaftliche Strategie", sagt McNally. "Darauf müssen Ausbildungssysteme und Fähigkeiten zugeschnitten werden."


Quelle: WELT, welt.de, 06.11.2021