Polnisches Bildungssystem steht vor Bewährungsprobe

Neue Zeiten, neue Herausforderungen - das gilt besonders für das polnische Bildungssystem. Grundlegende Reformen sollen dieses für die Erfordernisse des modernen Arbeitsmarktes fit machen. Doch zum Leidwesen vieler Betriebe kommt auch im neuen System die berufliche Praxis noch viel zu kurz. Unternehmen, die neue Mitarbeiter direkt von den Universitäten rekrutieren, müssen diese zunächst oft viele Jahre intern ausbilden.

Von vielen Managern unbestritten: Ein Großteil der Erwerbsfähigen in Polen verfügt über eine solide technische Ausbildung. Es gibt gut ausgebildete Techniker sowohl im Maschinenbau als auch in der Informationstechnologie. Industriekaufleute sowie Rechtsanwalts- und Notargehilfen sind dagegen kaum zu finden. Einfachere Positionen besetzen daher oft Hochschulabsolventen - bei entsprechend hoher Vergütung. Arbeitgeber beklagen allgemein die mangelnde Berufserfahrung, vor allem in den Bereichen Finanzwesen, Verkauf und Marketing. Die Universitäten, so sagen sie, bilden ihre Studenten nicht für ein wirtschaftlich geprägtes Umfeld aus, und in den Schulen gibt es noch immer zu wenig Wirtschaftsfächer.

Dabei ist Polen seit Jahren bestrebt, sein Bildungswesen marktwirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen. Im Laufe der Bildungsreform wurde das Schulsystem neu strukturiert. Zurzeit bestehen zwei Bildungssysteme parallel nebeneinander: einerseits das aus sozialistischer Ära, andererseits das seit 1.9.99 schrittweise eingeführte, reformierte Bildungssystem. Die Basis beider bilden die neue sechsjährige Grundschule und das neue dreijährige Gymnasium. Das Hochschulgesetz wurde 2004 umfassend reformiert, das Oberschulsystem von 2002 bis 2005. Seit Frühjahr 2005 gelten an allgemeinbildenden und spezialisierten Lyzeen für die Abiturprüfungen neue Regeln (unter anderem schriftlicher Außenabiturteil/Zentralabitur), bis 2007 sollen diese auch an allen anderen Postgymnasialschulen eingeführt werden.

Auch das berufliche Ausbildungssystem ist anders organisiert als das deutsche duale System. Wer eine zwei- oder dreijährige Berufsschule absolviert, kann danach eine Ausbildung zum Facharbeiter antreten. Dazu gibt es die vierjährigen Berufslyzeen oder Technika, an deren Ende das Abitur oder das Abgangszeugnis steht. Die meisten Ausbildungsgänge sind auf Ganztagsschulen angelegt. Damit ist das entscheidende Problem vorprogrammiert: Die berufliche Praxis kommt in der Ausbildung zu kurz. Da ein landesweites Programm zur dualen Berufsausbildung noch in weiter Ferne scheint, bemühen sich auf Woiwodschaftsebene jetzt die Marschallämter als oberste Organe der regionalen Selbstverwaltung, die Anstrengungen der Betriebe um berufsnahe Ausbildung ihrer Arbeitnehmer zu kanalisieren und zu koordinieren. Sie entwickeln einheitliche Ausbildungslehrgänge, die in der betreffenden Woiwodschaft ein Zertifikat erhalten sollen, um den Unternehmen so eine Sicherheit über den Ausbildungsstand ihrer Mitarbeiter zu bieten. Vorreiter sind die Woiwodschaften Slaskie und Opolskie.

Die allgemeine Hochschulreife erlangen die polnischen Schüler an allgemeinbildenden und spezialisierten Gymnasien. Wer sich stattdessen auf das Berufsleben vorbereiten will, geht zur Berufsschule. Allerdings gilt diese - zumindest in ihrer alten Form - in der öffentlichen Meinung als Auffangbecken für soziale Randgruppen. Die neue Berufsgrundschule vermittelt seit 2002/2003 in zwei bis drei Jahren neben dem beruflichen Know-how (Berufsprüfung und -diplom) gleichermaßen Allgemeinwissen und ermöglicht es dadurch ihren Absolventen, ihre Ausbildung an einer Ergänzungsschule (Ergänzungslyzeum, Ergänzungstechnikum) fortzusetzen.

Es gibt in Polen 17 Universitäten und 22 technische Hochschulen (gegenüber 100 Universitäten und 162 Fachhochschulen in Deutschland), 93 Wirtschaftsschulen, zehn medizinische Akademien und neun landwirtschaftliche Colleges. Die Zahl der Studenten an höheren Bildungseinrichtungen in Polen ist in den vergangenen zehn Jahren um fast das Zweieinhalbfache gestiegen. Etwa 300 neue Schulen sind entstanden, vor allem private. Waren 1992 erst 3,4 Prozent der Schüler und Studierenden an Privatschulen eingeschrieben, so lag dieser Anteil 2004 bei 30,4 Prozent.

Gleichwohl sehen private Lehranstalten schwierigen Zeiten entgegen: Von den heute bestehenden etwa 400 höheren Privatschulen sollen in zehn Jahren nur noch etwa 250 übrig bleiben, sagen Beobachter. Dabei haben diese nicht nur mit rückläufigen Studentenzahlen zu kämpfen, sondern - zumindest viele Hochschulen - auch mit einem schlechten Image. Denn während der Besuch einer privaten Universität in Deutschland gemeinhin als Privileg angesehen wird, herrscht in Polen die Meinung vor, dass dort vornehmlich junge Leute studieren, die an den staatlichen Hochschulen ihre Aufnahmeprüfungen nicht bestanden haben. Private Grundschulen dagegen genießen ein hohes Ansehen.

Quelle: bfai vom 14.09.2006