Indien: Bildung als Wachstumsmotor

Die indische Regierung legt ein massives Bildungsprogramm zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes auf. Gibt es dadurch Spielraum für die deutsche Bildungswirtschaft?


Einen "Quantensprung" hat der indische Ministerpräsident Manmohan Singh Anfang des Jahres in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik seines Landes angekündigt: 20 Universitäten, acht technische Institute, fünf Forschungsinstitute sowie 20 IT-Institute stehen auf dem Plan der Neuinvestitionen.

Bemerkenswert ist, dass in dieser Initiative die berufliche Bildung einen höheren Stellenwert als bisher bekommen hat, denn die Mittel sollen auch in 1600 neue '"Industrial Training Insitutes" (ITIs, polytechnische Bildungsstätten), 10.000 weitere berufliche Schulen sowie 50.000 praktische Trainingszentren fließen.

Auf das Fünffache sollen die staatlichen Ausgaben für die Bildung steigen, die jetzt nur einen bescheidenen Anteil von rund 1 Prozent des Bruttosozialproduktes ausmachen.

Diese Orientierung ist jedoch seit vielen Jahren überfällig. 12 bis 13 Millionen junger Menschen drängen jedes Jahr auf den indischen Arbeitsmarkt – aber nur rund 2,5 Millionen von ihnen kann derzeitig eine Ausbildung angeboten werden. Während die Mehrzahl dieser Ausbildungsmöglichkeiten auf einen akademischen Abschluss abstellt, stehen nur rund 900.000 berufliche Ausbildungsplätze in den gut 5.000 bestehenden ITIs zur Verfügung, deren Qualität darüber hinaus noch weit von den Anforderungen der sich rapide modernisierenden indischen Indstrie entfernt ist.

So werden neben den Chancen, die die junge Bevölkerung bietet, zunehmend auch die damit verbundenen großen Herausforderungen für die Entwicklung dieses Potenzials gesehen, die durch hohe Schulabbrecherraten, massive Unterbeschäftigung oder die bereits große Zahl der schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitskräfte noch verstärkt werden.

In der Tat ist es in großem Maße der mangelhafte Ausbildungsstand der Arbeiter, der der verarbeitenden Industrie Indiens zu schaffen macht und insbesondere die Entwicklung des so genannten "informellen Sektors", der etwa 92 Prozent der indischen Arbeitnehmer beschäftigt, immens hemmt. Nach Aussage der "Manpower Services India" verfügen 97 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung über keinerlei technische Qualifikation.

Um jedoch an der Globalisierung teilhaben zu können, so Arbeitsminister Oscar Fernandes vor kurzem auf einem internationalen Treffen der Confederation of Indian Industry (CII), einer der führenden Wirtschaftsverbände des Landes, zur "Qualifikations-Entwicklung", müsse Indien jährlich 10 Millionen Menschen die notwendigen modernen Fertigkeiten vermitteln. Und wenn die Regierung dazu die neuen ITIs, die "Vocational Schools" und "Skill Development Centres" einrichte, erwarte sie von der nationalen Industrie auch eine gleichwertige Beteiligung.

Dort findet dieser Appell zunehmend Widerhall. Noch vor wenigen Jahren beschränkten sich beispielweise die Aussagen zur Berufsbildung im CII-Jahresbericht auf die lapidare Forderung an die Regierung, doch mehr Geld in die staatlichen Institutionen zu stecken. Heute bezeichnet die CII die unzureichende Ausbildung der "Facharbeiter" selbst als Wachstumshemmnis und definierte 21 Schwerpunktsektoren, in denen "beschäftigungsfähige" Fachleute besonders erforderlich sind wie in der Autoindustrie, der Bauwirtschaft, den metallverarbeitenden Branchen oder der Chemieindustrie.

Bereits 2004 formulierte sie die Aufgabe, Indien zu einer globalen "skill capital" zu entwickeln und gründete ihre "Skills Guild", die nach dem Vorbild der britischen "UKSkills" Ausbildungs- und Trainingstandards der Wirtschaft definieren und einführen soll.

Um die Praxisferne der Ausbildung in den ITIs zu überwinden wurde mit der Regierung vereinbart, rund 1.400 dieser Einrichtungen in Public-Private-Partnership (PPP)-Projekten unter der Obhut von Unternehmen zu führen.

Das Ziel, Indien zu einer "skill capital of the world", zu einer globalen Arbeitskräftequelle zu machen, rückt immer weiter in den Focus der nationalen Bildungspolitik: bei einem für 2020 prognostizierten weltweiten Mangel von rund 46 Millionen Arbeitskräften will Indien seine junge Bevölkerung auf diesen globalen Arbeitsmarkt vorbereiten und so die Last der Überbevölkerung in einen weltwirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil wandeln.

Nicht zuletzt steht dahinter aber auch ein inzwischen enormer sozialer und politischer Druck. 54 Prozent der etwa 1,1 Milliarden Inder sind jünger als 25 Jahre, ein Drittel der Bevölkerung sogar unter 15 Jahren. Um dieser demografischen Herausforderung zu genügen, sieht der 11. Fünfjahresplan (2007-2011) die Schaffung von insgesamt 70 Millionen Arbeitsplätzen vor, was ohne ein ausreichendes Maß an beruflicher Qualifizierung aber nicht erreichbar ist.

Dass die notwendige radikale Modernisierung der beruflichen Bildung nicht allein aus eigener Kraft gestemmt werden kann, ist dabei sowohl der indischen Regierung als auch der indischen Wirtschaft klar, die deshalb auch auf die Nachnutzung internationaler Erfahrungen und Modelle orientieren.

Erneut war es die CII, die in dieser Frage schnell Nägel mit Köpfen machte und sich mit der britischen "City & Guild" zusammentat. Mittlerweile ist die "City & Guild" mit einer eigenen Niederlassung in Indien aktiv und betreibt gemeinsam mit Unternehmen, Verbänden, Ausbildungsorganisationen, Regierungsstellen, Schulen und Colleges mehr als 100 Ausbildungszentren in Indien, von denen bereits rund 40 öffentlich akkreditiert wurden.

Die "City & Guilds", die als berufliche Bildungs-Dachorganisation mit rund 8500 Partnereinrichtungen in über 100 Ländern aktiv ist, versteht sich dabei als Wegbereiter britischer Bildungsdienstleister im expandierenden indischen Bildungsmarkt.

Die deutsche Wirtschaft, die mit ihrer auf dem Dualen System beruhenden Berufsbildung in Indien einen guten Ruf besitzt, ist auf diesem Markt bei weitem noch nicht so gut vertreten und konnte bisher auch (noch) nicht an die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Berufsbildungsprojekte der Entwicklungszusammenarbeit anknüpfen.

Es mag wohl auch daran liegen, dass die deutsche Weiterbildungswirtschaft über keine Organisation wie die "City & Guild" verfügt, dass bis auf wenige Ausnahmen deutsche Weiterbildungsanbieter in Indien noch nicht Fuss fassen konnten.

Dabei ist gerade für die in Indien tätigen deutschen Unternehmen, insbesondere aus dem Mittelstand, der Mangel an qualifizierten Facharbeitern besonders schmerzlich spürbar. Im Gegensatz zu den großen Unternehmen verfügen sie in der Regel nicht über die Ressourcen, um die notwendigen Ausbildungsleistungen zu erbringen, auch wenn über PPP-Maßnahmen in einigen Fällen Abhilfe geschaffen werden konnte.

Trendweisend – auch für eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit – könnte dabei das 2003 gegründete Indo German Institute of Technologies sein. Dieses Institut beruht auf einer Initiative der in Möchengladbach ansässigen mittelständischen Diamant Gesellschaft für Metallplastic mbh, die mit Partnern in Indien am Transfer beruflicher Qualifikationen arbeitet und nun auch die Schulung von Facharbeitern anstrebt.

(Dieser Newsletter ist ein gekürzter Beitrag für die Ausgabe der „IndienContact" vom März 2008.)

Quelle: Newsletter EDUCON-Info, 25.02.2008