"Tunesien investiert 22 Prozent des Staatshaushalts in Bildung. […] Umso dramatischer ist die hohe Arbeitslosigkeit von 18,1 Prozent, davon sehr viele Akademiker. Schaffung von qualifizierten Arbeitsplätzen steht daher ganz oben auf der Prioritätenliste", beschreibt Lamia Boufaied von der FIPA (Förderungsamt für ausländische Investitionen) eines der dringendsten Probleme in Tunesien.
Auf nach Tunesien!
Da hatten sich die Industrie- und Handelskammern (IHKs) Hamburg und Hannover etwas Besonderes einfallen lassen: In Kooperation mit dem Konsulat der Tunesischen Republik in Hamburg, vertreten durch Konsul Mohammed Imed Torjemane, fanden Mitte Oktober in den IHKs Hamburg und Hannover sowie in Celle bei der Deutschen Managementakademie – eine Außenwirtschaftsförderungsgesellschaft des Landes Niedersachsen - "Wirtschaftstage Tunesien" statt. "Damit streben wir eine neue Kontinuität in den Beziehungen unserer beiden Länder an", formuliert es Tilman Brunner, der Leiter der Abteilung International bei der IHK Hannover.
Eine Delegation tunesischer Geschäftsleute der unterschiedlichsten Branchen von Kabeltechnik über Recycling bis Textil hatte die Gelegenheit, Vorträge zu hören und mit von den IHKs eingeladenen deutschen Unternehmern über Kooperationsmöglichkeiten zu diskutieren. Geleitet wurde die tunesische Delegation von Néjib Mellouli, dem Präsidenten der Handelskammer der wirtschaftlich attraktiven Mittleren Region (umfasst die Gegend um die Städte Sousse, Monastir, Kairouan und Mahdia) mit sehr guter Infrastruktur.
Freiheit macht erfinderisch
Natürlich war die aktuelle Situation in Tunesien nach der Revolution am 19. Januar 2011 ein Thema. Ali Bellazreg, Geschäftsführer der Firma MSPE sarl (Mecatronic Systems Production Engineering) aus Moknine bei Monastir ist begeistert von den neuen Möglichkeiten: "Nach der Revolution genießen wir die Freiheit, und die macht erfinderisch. Wir wollen zusammen mit Deutschen Unternehmen Neues starten. Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung ist die Freiheit, auch die Freiheit für Innovationen. Früher war in Tunesien alles kontrolliert, und alle standen unter dem gleichen Druck: der normale Bürger und jeder Unternehmer. Endlich kann ich tun, was ich will und frei denken". Eine Vokabel, die bei uns fast aus der Mode gekommen ist, fällt immer wieder: "Selbstverwirklichung".
"Die Gesetzeslage – ob Handelsrecht, Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht, Investitionsrecht - ist in Tunesien gut. Solche Gesetze existieren schon lange, sie waren bis zur Revolution allerdings nur Theorie, und die früheren Machthaber waren Meister darin, sie zu umgehen. Jetzt gelten die Gesetze, und sie sind die Basis für unsere Stabilität. Nach der Revolution haben Staat und Administration weiter funktioniert. Der Staat hat bis zur Revolution seine eigenen Gesetze definiert, nun lebt das Volk nach den tatsächlich existierenden Gesetzen. Die Gesetzgebung in Tunesien basiert auf europäischen Vorbildern, und bis zur letzten Phase der Regierung Bourguiba wurde sie befolgt. Die Revolution war eine riesige Befreiung", so Ali Bellazreg in perfektem Deutsch. "Ich war als Student 1984 ein Jahr lang in Hannover, um beim Studienkolleg Hannover Deutsch zu lernen. Anschließend habe ich an der Universität Duisburg Maschinenbau studiert", so der in Moknine geborene Unternehmer, der seine Firma selbst aufgebaut hat und stolz ist auf seine 1.200 Mitarbeiter.
Konsul und Kammerpräsident werben für ihr Land
Konsul Mohamed Imed Torjemane betont eindringlich: "Tunesien ist heute mehr als je zuvor dem internationalen Umfeld geöffnet. Öffnung und Transparenz sind wichtig für die Zukunft. Die Unternehmen der beiden Länder sollten die Pfeilspitze der Kooperation sein. Von ihnen sollte ein starkes Signal ausgehen: Das Morgen beginnt heute".
Kammerpräsident Néjib Mellouli ergänzt dies: "Tunesien erlebt gerade tiefgreifende Veränderungen, aber die Zukunft ist ermutigend. Viele Tunesier haben sehr gute Kenntnisse in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Elektronik, und Tunesien ist das Tor, das zu einem riesigen Markt mit 450 Millionen Verbrauchern in Afrika führt. Wir zählen auf Deutschland, und ich richte einen Appell an deutsche Unternehmen, die wirtschaftlichen Beziehungen zu vertiefen".
Mellouli beschreibt die Vorzüge der Städte seiner Region und erinnert daran, dass nach wie vor Sousse und Monastir Partnerstädte von Braunschweig beziehungsweise Münster sind. Als wichtigste Industriebereiche in der Zentralregion nennt er die Textilindustrie, wo zum Beispiel namhafte Hersteller wie Benetton und Boss produzieren, sowie Elektronik, Kabelherstellung, Komponentenproduktion für die Luftfahrtindustrie und vieles mehr.
"Besonders wichtig ist die Landwirtschaft. Es gibt 19 Millionen Olivenbäume, und unser Olivenöl wird sogar nach Italien, Spanien und Frankreich exportiert. Die biologische Landwirtschaft verzeichnet großes Wachstum. Im Tourismus können wir 280 Hotels mit 80.000 Betten anbieten, und wir freuen uns über die vielen deutschen Touristen". Die 1895 gegründeten Handelskammer der Zentralen Region (Chamber of Commerce and Industry of the Center – CCIC) befasst sich mit den Bereichen Handel, Industrie, Dienstleistungen und Kunsthandwerk.
AHK Tunis: mit Umsicht und Zuversicht
Natascha Boussiga, die stellvertretende Geschäftsführerin der Deutsch-Tunesischen Handelskammer (AHK) Tunis, begleitet die tunesische Delegation und wendet sich mit ihrem Vortrag "Quo vadis, Tunesien" an die deutschen Unternehmer.
"Seit der Revolution hat Tunesien wachsendes Interesse bei ausländischen Investoren geweckt. Das Wirtschaftswachstum in Tunesien betrug im Revolutionsjahr 2011 sogar noch fast ein Prozent. Während der kritischsten Tage waren einige deutsche Unternehmen nur einmal von Freitag bis Montag geschlossen. Die Mitarbeiter haben einen beispiellosen Einsatz gezeigt, ihre Firmen geschützt und Wache gehalten. Zu den am meisten beeindruckenden Momenten der Aufbruchstimmung gehörte der Wahltag. Am 23. Oktober 2011 standen die Menschen stundenlang Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Die Sicherheitslage ist wesentlich besser als in den Medien dargestellt. Es gibt keinen Grund, aus Sicherheitsaspekten nicht nach Tunesien zu reisen. Es gibt immer wieder Demonstrationen, das ist ein Zeichen dafür, dass die Bevölkerung alles sehr genau beobachtet. Mit dem Demonstrationsrecht genießen sie freie Meinungsäußerung und empfinden das schon fast als echte Demokratie. Man muss allerdings feststellen, dass die Regierung noch keine klare Strategie hat, es fehlen die klaren Signale – aber wir sind zuversichtlich. Die Wirtschaft erholt sich langsam, Proteste und Streiks gehen zurück. Als wichtigste Ziele sind Transparenz und Korruptionsbekämpfung ausgemacht, und es besteht Einigkeit darüber, ein liberales Wirtschaftssystem aufzubauen. Es ist möglich, konkrete Projekte jetzt anzugehen – mit der gebotenen Umsicht".
Auf die Frage nach der Zahl der deutschen Firmen in Tunesien meint sie: "In Tunesien sind 260 deutsche Firmen tätig, die rund 50.000 Mitarbeiter beschäftigen. Die Entwicklung ist so positiv, dass die deutschen Unternehmen ihren französischen Kollegen bald den Rang ablaufen könnten. Wir haben im Revolutionsjahr sogar 104 neue AHK-Mitglieder bekommen".
Die Deutsch-Tunesische Industrie- und Handelskammer in Tunis veröffentlicht eine eigene, sehr informative Zeitschrift mit dem Titel "Partenaire & Developpement", in der zum Beispiel Messen und Ausstellungen in Tunesien aufgeführt werden.
FIPA Tunisia: Investoren willkommen
Die FIPA, seit 30 Jahren mit höchster Kompetenz ausgestattete Anlaufstelle für alle an Tunesien interessierten ausländischen Investoren, hat ein Büro in Köln. Seit drei Jahren ist dort Lamia Boufaied "Chargée de Mission". Bevor sie diesen Posten übernahm, arbeitete sie in der Handelskammer Tunis.
Die größten Chancen für Investoren sieht sie in den folgenden Bereichen: erneuerbare Energien (Verweis auf Desertec), Abfallmanagement, Wassermanagement, Landwirtschaft, Nahrungsmittelsektor, Industrie, Infrastruktur, Dienstleistungen und Gesundheitswesen. Großes Exportpotenzial für deutsche Unternehmen gibt es zum Beispiel bei Milchprodukten, Tiefkühlkost, Anlagen, Ausrüstung und Verpackungsmaschinen.
"Die Infrastruktur ist gut, Wasser- und Stromversorgung haben stets normal funktioniert, das gilt auch für Telefon und Internet. Die Investitionsanreize haben sich nicht verändert, nur wird jetzt entsprechend der Vorgaben auch gehandelt, früher nicht. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Begünstigung von Investitionen sind geblieben und werden nun tatsächlich umgesetzt. Diese sind zum Beispiel: Investitionsfreiheit in den meisten Sektoren; freier Transfer von Gewinnen, Kapital und Veräußerungsgewinnen; Import- und Exporterleichterungen und vereinfachte Zollverfahren; Schutz des geistigen Eigentums; Support Organisationen für Investoren; Gleichbehandlung von tunesischen und ausländischen Investoren; einfache Verfahren zur Unternehmensgründung nach dem One-Stop-Shop Prinzip; Flexibilität bei den Personaleinstellungsverfahren; Konvertibilität des tunesischen Dinars für Exportunternehmen".
Die Frage nach den drei derzeit größten Problemen in Tunesien beantwortet sie so: "Tunesien investiert 22 Prozent des Staatshaushalts in Bildung. Wir haben daher sehr viele ausgezeichnet ausgebildete Hochschulabsolventen, von denen auch ausländische Investoren profitieren können. Umso dramatischer ist die hohe Arbeitslosigkeit von 18,1 Prozent, davon sehr viele Akademiker. Schaffung von qualifizierten Arbeitsplätzen steht daher ganz oben auf der Prioritätenliste. Das zweite Problem sind die starken regionalen Unterschiede. Wir müssen uns auf einen Ausgleich konzentrieren. Und drittens brauchen wir mehr Wirtschaftswachstum. Es muss investiert werden!"
Foren, Tagungen, Kongresse
Noch in diesem Jahr gibt es eine Veranstaltung in Tunis: "Business and Technology Convention" findet vom 28. bis 30. November statt. Wer sich für den gesamten Raum Nordafrika interessiert, sei auf eine geplante Tagung in Tunis zum Thema "Infrastruktur Nordafrika" hingewiesen. Termin: 21. bis 22. Januar 2013.
Investoren, die sich in Tunesien engagieren möchten, können sich ein Bild über die sich bietenden Möglichkeiten im neuen Umfeld bei dem jährlichen, etwa im Juni stattfindenden, hochkarätig besetzten Investitionsforum in Tunesien machen. Termin und Ort kann man zu gegebener Zeit bei der FIPA Tunisia erfragen.