Fachkräftemangel bedroht den Standort Tschechien / Jahresthema Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer (DTIHK) "Gemeinsam für Fachkräfte und Innovation"
- von Bernard Bauer, Geschäftsführer der DTIHK
Laut aktueller Umfrage der Auslandshandelskammer (AHK) ist Tschechien der attraktivste Investitionsstandort in Mittel- und Osteuropa. Der Grund dafür sind vor allem die tschechischen Arbeitskräfte: Ihre gute Qualifikation in Verbindung mit hoher Produktivität und den vergleichsweise niedrigen Lohnkosten waren für deutsche Investoren bisher eine wichtige Motivation, den Standort zu wählen.
Doch nun gehen den Firmen allmählich die Fachkräfte aus.
Besonders in technischen Branchen werden gut ausgebildete und praxiserfahrene Mitarbeiter händeringend gesucht. Gründe dafür sind die wachsende Diskrepanz zwischen dem Bedarf an praxiserfahrenen Mitarbeitern und dem geringen Praxisanteil in der Berufsausbildung sowie der Unterschied zwischen Wirklichkeit und öffentlicher Wahrnehmung technischer Berufe in Tschechien.
Trotz der langen Industrietradition des Landes gilt es heutzutage als wenig erstrebenswert, ein Handwerk zu erlernen oder an einer Technischen Hochschule zu studieren. Seit 14 Jahren setzt sich die DTIHK aus diesen Gründen für ein praxisnahes Bildungssystem ein.
"Zeitbombe Fachkräftemangel"
Die "Zeitbombe Fachkräftemangel" tickt weiter, doch Politik und Öffentlichkeit verkennen bisher die Brisanz.
Deshalb wählte die DTIHK für 2012 das Jahresmotto "Gemeinsam für Fachkräfte und Innovation". Nicht zufällig wurden die Themen Arbeitskräfte und Innovation verknüpft, denn ohne gut ausgebildete Fachkräfte ist langfristig keine Innovation möglich.
Als Auftakt des Jahresthemas veranstaltete die DTIHK einen Round Table mit wichtigen deutschen Unternehmen in Tschechien und führte eine Umfrage unter deutschen und tschechischen Unternehmen zum Thema Ausbildung durch.
Die Firmenvertreter waren sich sowohl im Gespräch als auch in der Umfrage einig, dass sich der Fachkräftemangel besonders im produzierenden Gewerbe zu einem ernsthaften Problem entwickelt, das in den nächsten Jahren noch gravierender werden wird.
Um diese Entwicklung abzuwenden, muss das Ausbildungssystem reformiert werden. Außerdem muss eine Popularisierung technischer Ausbildungsgänge stattfinden.
Auch eine andere DTIHK-Umfrage zum Thema Innovation deckte Verbesserungsbedarf auf:
Innovationspotenziale sind in den Unternehmen oft nicht ausgeschöpft, weil kein systematisches Innovationsmanagement vorhanden ist. Deshalb veranstaltete die DTIHK unter anderem ein Innovationsforum mit Škoda Auto, bei dem 25 Unternehmen aus Sachsen, Bayern und Tschechien ihre Ideen und Technologien in individuellen Zweiergesprächen direkt den Einkäufern von Škoda vorstellen konnten. Dabei ergab sich ein wertvoller Ideenpool.
Dem Thema Ausbildung wird sich auch das diesjährige Wirtschaftsgespräch am 26. und 27. November widmen – hier werden Vertreter der DTIHK, der Wirtschaft und der Politik über das Problem diskutieren und gemeinsame Lösungsansätze suchen.
Offener Brief an den Ministerpräsidenten
Veränderungen im Bildungssystem können nur dann umgesetzt werden, wenn die Öffentlichkeit von ihrer Notwendigkeit überzeugt ist.
Deshalb hat die DTIHK einen offenen Brief an den Ministerpräsidenten Nečas gerichtet. Den Brief unterzeichneten Unternehmen wie Škoda Auto, E.ON, Kaufland, RWE, Siemens und Bosch. Die Initiative ist auf eine breite Medienresonanz gestoßen.
Die Unterzeichner fordern eine Reform des Berufsausbildungssystems: Die Ausbildung soll deutlich praxisbezogener werden.
In seiner Antwort verwies Ministerpräsident Nečas auf entsprechende Ansätze der Bildungspolitik in der Vergangenheit. Aus Sicht vieler Unternehmen gehen die Reformen allerdings noch nicht weit genug.
Daher freut sich die DTIHK über die Einladung des Ministerpräsidenten, einen Vertreter in eine Arbeitsgruppe des Bildungsministeriums zur Lösung der Ausbildungsproblematik zu senden. In der Arbeitsgruppe wird sich die Kammer für mehr Unternehmens- und Praxisbezug in der Berufsausbildung einsetzen und zum Modell der dualen Ausbildung anregen.
Kein "copy & paste"
Die duale Ausbildung in Deutschland enthält einen 50-prozentigen Praxisanteil direkt in den Unternehmen. Diese sind gleichzeitig an der Konzeption der Ausbildungsinhalte beteiligt.
Entsprechende Modelle funktionieren nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern etwa auch in den Niederlanden. Bezeichnenderweise sind die EU-Länder mit ähnlichen Ausbildungsmodellen gleichzeitig die, bei denen die Jugendarbeitslosigkeit mit Abstand am niedrigsten ist: rund acht Prozent. In Tschechien ist sie mit derzeit 19 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Das zeigt, dass die Ursache des Fachkräftemangels nicht nur im demografischen Wandel zu suchen ist. Wenn schon jetzt ein Fünftel der jungen Leute keinen Job hat, obwohl die Fachkräfte in vielen anspruchsvollen Produktions- und Entwicklungsbetrieben weiterhin fehlen, sind die Probleme eindeutig an anderer Stelle zu verorten.
Der DTIHK und ihren Partnern geht es dabei nicht um "copy & paste" des deutschen Ausbildungssystems, sondern um Inspiration.
Es gibt hierzulande andere Voraussetzungen und Traditionen. Allerdings hat es früher auch in Tschechien über viele Jahrzehnte eine kooperative Ausbildung in den Unternehmen gegeben, von der die Betriebe noch heute profitieren – jedoch gehen die gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sukzessive in Rente.
Kern der tschechischen Erfolgsstory
Wichtig ist es, die Unternehmensverantwortung als Kernelement anzusehen, vor dem die Politik keine Angst zu haben braucht, da sie in anderen Ländern hervorragend funktioniert und verschiedene Formen annehmen kann. Objektiv bestätigt dies auch die Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD): Sie empfiehlt das erfolgreiche duale Ausbildungsmodell auch den USA.
Andere Länder in der Region wie beispielsweise Polen oder Ungarn haben zwar ähnliche Probleme mit dem Fachkräftenachwuchs wie Tschechien – sie sind aber bereits dabei, eine dem dualen Ausbildungssystem ähnliche Berufsausbildung einzuführen.
Auch Tschechien sollte sich wieder auf seine bewährte Industrietradition besinnen, um im Vergleich zu diesen Standorten nicht zurückzufallen.
Gutes Fachpersonal und Innovationen bilden seit Jahrzehnten den Kern der tschechischen Erfolgsstory. Wenn das Land auch in Zukunft attraktiv und global konkurrenzfähig bleiben will, sollte es daher auf die Ausbildung seines Fachpersonals setzen.