Warum deutsche Unternehmen auf der ganzen Welt Facharbeiter ausbilden

In China schult die Daimler AG seit 2006 zukünftige Techniker. In Mexiko will der Volkswagen-Konzern, der in Puebla schon seit den sechziger Jahren nach dem dualen System ausbildet, sein Werk erweitern. Für den vietnamesischen Bildungsmarkt haben sich sechs deutsche Lehrinstitute zusammengeschlossen, um dort Ausbildungsprogramme anzubieten. Und selbst in hoch entwickelten Industrieländern wie Großbritannien bilden deutsche Konzerne Lehrlinge aus.


Mehrmals im Jahr landen große Stapel mit Bewerbungen auf Jörg Abramowskis Schreibtisch. Ihm schreiben junge Chinesen, die als Mechatroniker oder Fertigungsmechaniker arbeiten wollen – und die davon gehört haben, dass der deutsche Konzern Daimler in China, wo Abramowski die Abteilung Ausbildung leitet, ein für die Region besonderes Programm anbietet: eine dreijährige Lehre, die sich am dualen Ausbildungssystem Deutschlands orientiert. "So umfangreiche Praxisanteile gibt es in der chinesischen Berufsausbildung normalerweise nicht", sagt Abramowski. Die Nachfrage sei dementsprechend groß: Aus den Provinzschulen, an denen man das Programm beworben hatte, meldeten sich fast alle Schüler für die Auswahltests an.

Immer mehr deutsche Unternehmen setzen auf Ausbildungsprogramme im Ausland. In China schult die Daimler AG seit 2006 zukünftige Techniker: Am Anfang gab es zwei Pilotklassen in Peking, inzwischen werden rund 550 Schüler in fünf chinesischen Regionen von 30 Lehrern betreut, in Indien übergab der Konzern jüngst die Verantwortung für die Ausbildung an lokale Verantwortliche. In Mexiko will der Volkswagen-Konzern, der in Puebla schon seit den sechziger Jahren nach dem dualen System ausbildet, sein Werk erweitern. Für den vietnamesischen Bildungsmarkt haben sich sechs deutsche Lehrinstitute zusammengeschlossen, um dort Programme, zum Beispiel für Bautechnik oder Handel, anzubieten. Und selbst in hoch entwickelten Industrieländern wie Großbritannien bilden deutsche Konzerne Lehrlinge aus. BMW ist ein Beispiel dafür. Großbritannien überlasse "den Jugendlichen die Verantwortung für die berufliche Qualifizierung", erklärt Felix Rauner, Professor für Berufspädagogik an der Universität Bremen, solche Initiativen. Viele Unternehmen, darunter nicht nur deutsche, spürten das nun am niedrigen Ausbildungsniveau ihrer Beschäftigten – und müssten selbst aktiv werden.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die Ausbildungsprojekte deutscher Unternehmen im Ausland unterstützt, spricht von einem Zuwachs. "Initiativen im Bereich Fachkräftequalifizierung haben in den letzten Jahren um 30 bis 35 Prozent zugenommen", schätzt Bernd Lunkenheimer, GTZ-Experte für Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft. Besonders im Maschinen- und Fahrzeugbau gebe es eine stärkere Nachfrage. Für die Unternehmen stehe meist im Vordergrund, ihre Kunden auf neuen Absatzmärkten versorgen zu können. "Wer Produkte im Ausland verkauft, muss dann auch Servicestützpunkte anbieten und die Kunden gut betreuen. Das gehört zum Image deutscher Marken", erklärt Lunkenheimer. Andererseits dienten solche Programme auch der Entwicklungshilfe: "Der Fachkräftemangel ist eines der größten Hemmnisse in Entwicklungs- und Schwellenländern." Wenn die Unternehmen nicht nur für den eigenen Bedarf ausbildeten, unterstütze die GTZ die Vorhaben mit Expertise und Investitionen.

China gehöre zu "den letzten Automobilparadiesen der Welt", begründet Daimler-Manager Jörg Abramowski die Initiative des Konzerns. "Wir wollen hier wachsen und brauchen gut qualifizierte Leute." Zwei Jahre verbringen die Schüler vor allem in den neu gegründeten Berufsschulen. Das dritte Jahr absolvieren sie komplett in der Praxis, in der Fabrik und bei Händlern. Immer wieder kämen Politiker und Unternehmensvertreter vorbei, um sich diese Ausbildung, deren Vorbild das duale System ist, anzuschauen. "Vielleicht strahlt das positiv auf chinesische Staatsunternehmen aus." Auch Bildungsforscher Felix Rauner sieht diesen Bedarf: China verfüge über ein "weitgehend schulisch geprägtes Berufsbildungssystem", in dem es weder betriebliche Ausbildungs- noch Prüfungsordnungen gebe. "Das Gesamtergebnis der chinesischen Berufsausbildung ist daher dürftig." Eine Rolle spiele auch, dass viele Eltern aufgrund der Ein-Kind-Politik der Regierung ihr Kind unbedingt auf die Universität schicken wollten – die berufliche Bildung werde deshalb vernachlässigt.

Unternehmen können bei ihren Lehrinitiativen auf den guten Ruf der dualen Ausbildung zählen. "Das deutsche Modell genießt weltweit ein hohes Ansehen", sagt Kerstin Nagels, Berufsbildungsexpertin der GTZ. Das liege vor allem an der Praxisnähe. Außerdem wecke die starke Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat, zum Beispiel bei Lehrinhalten und Prüfungen, Vertrauen bei Bewerbern und Arbeitgebern. Die duale Ausbildung müsse aber immer an die Bildungs- und Arbeitssysteme der jeweiligen Länder angepasst werden: Welche Schulabschlüsse gibt es in der Region? Wie alt sind potenzielle Bewerber? Wo finden die Praxisanteile statt, oder wie stark wirken Betriebe mit?

Bildungsexperte Felix Rauner beobachtet sogar ein "weltweites Interesse an der Reetablierung der dualen Berufsausbildung", die lange Zeit in vielen Ländern als veraltet galt. Rauner hat dies in einer neuen Studie untersucht. Das Ergebnis: Etliche Länder, darunter etwa Malaysia, Italien oder sogar Großbritannien, sind auf dem Weg, "duale Formen der Berufsausbildung einzuführen oder zu reetablieren".

Sowohl für Entwicklungszusammenarbeit als auch für Unternehmen ist es aber schwierig, die richtigen Projektmitarbeiter zu finden. Vor allem Ingenieure und Techniker, die als Ausbilder vor Ort eingesetzt werden, fehlen. "Passendes Personal zu finden ist eine echte Herausforderung", berichtet Kerstin Nagels. "Man muss vieles mitbringen: sehr gutes technisches Wissen, Flexibilität, pädagogische Erfahrungen, Sprachkenntnisse und die Fähigkeit, sich schnell auf neue Kulturen einzustellen." Für Daimler kam ein Trainer für Fertigungsmechanik mit seiner Familie nach China, um die Lehrerausbildung zu übernehmen, den Unterricht zu planen und die Ausbildungsqualität zu kontrollieren. "Er musste selbst mitanpacken", sagt Abramowski, Bauteile schleppen und zusammenschweißen. "Nur zu hospitieren – das kommt bei den chinesischen Lehrern nicht gut an."

Auch für die chinesischen Lehrer, die zukünftige Lehrlinge ausbilden sollen, musste der Konzern ein umfangreiches Auswahlverfahren durchführen. "Die Lehrer, die wir in China gesucht haben, mussten offen für Neues sein", sagt Jörg Abramowski. Traditionell sind sie in chinesischen Berufsschulen für einzelne Fächer – zum Beispiel Mathematik oder Physik – zuständig. Das "Daimler-Modell" erfordere eher Projektleiter, die in verschiedenen Fachgebieten zu Hause sind und stark praxisorientiert denken.

Überhaupt lernte das Unternehmen mit den Gründungen einiges über die chinesische Schulkultur hinzu: Die Schüler sehen ihre Lehrer viel stärker als Idol und Vaterfigur, hat Abramowski beobachtet. Sie machen sogar gemeinsam Sport. "So etwas gehört hier ganz selbstverständlich zur Work-Life-Balance." Das wiederum wäre, findet Abramowski, "doch einmal eine schöne Idee für das deutsche Ausbildungssystem".

Autorin: Tina Rohowski

Quelle: Artikel auf Zeit Online vom 23.9.2009, www.zeit.de