Asien gehen die Fachkräfte aus

Nicht nur in ihrer Heimat klagen deutsche Mittelständler über fehlende Spezialisten. Auch im Ausland suchen sie verzweifelt nach fähigen Leuten. Viele nehmen die Sache jetzt selbst in die Hand - und exportieren die duale Berufsausbildung aus Deutschland in die Welt.

Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, steht Georg Hofäcker auf der Ausbildungsmesse des Chien-Shiung College in Taicang bei Schanghai. Wohlgefällig beobachtet der Chinachef des Progress-Werks Oberkirch (PWO) die Traube chinesischer Jugendlicher, die sich um den Stand seiner Firma drängelt. Alle versuchen, ihren Lebenslauf loszuwerden und mit den Mitarbeitern des Automobilzulieferers aus dem Schwarzwald ins Gespräch zu kommen. Sie haben am College ein Jahr lang gelernt, welche Werkzeuge es gibt und wie man sie benutzt. In der Theorie.

Jetzt suchen sie eine deutsche Firma, die sie als Auszubildende übernimmt, um das eher abstrakte Wissen in der Praxis zu vertiefen. "Die sind hoch motiviert und wollen alle lernen. Wenn man sie fördert, entwickeln sie sich ungemein", sagt Hofäcker. Am Ende des Tages wird er fünf bis zehn von ihnen einen Ausbildungsvertrag bei PWO anbieten.

Seit zwei Jahren werden gut 200 Jugendliche am Chien-Shiung College nach deutschen Standards zum Industriemechaniker oder Mechatroniker ausbildet. Sie zahlen insgesamt 18.000 Yuan, umgerechnet knapp 2000 Euro, für eine Ausbildung nach dem dualen System, inklusive Abschlussprüfung durch die Außenhandelskammer (AHK) in Schanghai. Jetzt hat der erste Jahrgang seine Prüfungen abgelegt - und will ins Berufsleben starten.

Nicht nur in Deutschland klagen Unternehmen über Fachkräftemangel, auch in Schanghai, Hanoi und Philadelphia suchen die Firmen oft vergebens nach fähigen Mitarbeitern. Jetzt beteiligen sie sich vielerorts selbst an der Ausbildung. Rund um den Globus sind in den vergangenen Jahren zig Projekte gestartet worden, in denen junge Menschen - ähnlich wie in Deutschland - gezielt für einen Beruf qualifiziert werden.

Vor allem in den asiatischen Schwellenländern ist der Bedarf gigantisch. Dort gibt es zwar viele junge Leute, doch die haben entweder ein Studium abgeschlossen oder sind ungelernte Arbeiter. Dazwischen gibt es wenig. Deutsche Unternehmen, die wie PWO komplexe Produkte herstellen, suchen händeringend technisch qualifizierten Nachwuchs. "Wir sind ja nicht irgendein Stanzunternehmen", sagt Hofäcker, "wir machen Hightech."

Der Automobilzulieferer, der im April 2009 sein Werk im südchinesischen Suzhou eröffnete, um dort Sitzverstellungen zu produzieren, stellte schnell fest, dass die Arbeitskräfte vor Ort oft nicht einmal einen Schraubenschlüssel richtig herum halten konnten. "Was wir hier bekommen, sind keine Rohdiamanten", sagt Hofäcker, "das sind unbehauene Felsbrocken." Er bat die AHK Schanghai um Hilfe. Die machte sich auf die Suche nach einem chinesischen Partnerinstitut und wurde fündig beim Chien-Shiung College. Mehrere Delegationen flogen nach Deutschland, um sich das duale System in der Praxis anzuschauen - und waren begeistert.

Während Firmen hierzulande häufig über das angeblich viel zu teure und theorielastige deutsche Berufsausbildungssystem schimpfen, lernen sie es im Ausland schätzen. In den meisten Ländern dieser Welt gibt es keine geregelte Form der Ausbildung, oder sie ist so stark verschult, dass jeglicher Bezug zur Berufspraxis fehlt.

Dieses Defizit trifft vor allem deutsche Unternehmen, die auch im Ausland anspruchsvolle Produkte herstellen wollen. "Die Firmen merken, dass sie nicht nur Mitarbeiter brauchen, die technische Fähigkeiten haben, sondern auch mitdenken können", sagt Barbara Fabian. Sie ist beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) für die berufliche Bildung der Kammern im Ausland zuständig. Produktion, Aufbau, Wartung - überall hakt es, wenn das richtige Personal fehlt. Irgendwann, erzählt Fabian, sei der Leidensdruck so groß, dass die Unternehmen selbst zu ausbilden begännen. Und zwar so, wie sie es aus Deutschland kennen.

Die großen Konzerne wie Volkswagen, Lufthansa Technik, Siemens oder Bosch haben den Bedarf früh erkannt und eigene Ausbildungsstätten gegründet. Die vielen Mittelständler, die den Konzernen gefolgt sind, ziehen jetzt nach - und bauen in großem Stil eigene Ausbildungszentren auf. Einige schließen sich mit anderen Unternehmern zusammen und holen dann einen Bildungsdienstleister aus Deutschland, der vor Ort die Fachkräfte schult. Andere lassen sich die Ausbildung über die örtliche AHK organisieren. Die Kammern machen das meist, wie in Schanghai, in Kooperation mit einem einheimischen Anbieter.

Der Ansatz der deutschen dualen Ausbildung, die Einbindung in den Berufsalltag, die Kombination aus Praxis und Theorie, das Meister-Schüler-Verhältnis "ist international hoch angesehen", sagt Sabine Gummersbach-Majoroh, Leiterin der Initiative iMove des Bundesbildungsministeriums.

Das System verschafft nicht nur den Produktionsfirmen im Ausland Vorteile. Es befeuert auch das Wachstum deutscher Bildungsanbieter, die ihre Trainingskonzepte in alle Welt exportieren. Mit Dienstleistungen für deutsche Unternehmen im Ausland setzte die Branche im vergangenen Jahr einer Studie von Booz & Company zufolge 714 Millionen Euro um.

Die Paderborner Firma GPDM ist ein solcher Bildungsanbieter. In China hat sie bereits das German Energy Center & College aufgezogen, in dem 26 Mittelständler ihre Fachkräfte qualifizieren lassen. Gerade baut GPDM für den Dortmunder Getränketechnikhersteller KHS, einen der drei größten Abfüllanlagenhersteller weltweit, im vietnamesischen Hanoi ein Schulungszentrum nach deutschem Vorbild. Die Bildungsfirma kooperiert mit einer bestehenden Berufsschule und richtet sie nach deutschen Standards aus. "KHS finanziert die technische Ausstattung, wir bilden die Trainer aus", sagt Markus Kamann, Geschäftsführer von GPDM. Wer die Ausbildung durchlaufen hat, wird von der Außenhandelskammer in Hanoi geprüft. "Den Unternehmen ist das deutsche Zertifikat nicht wichtig", sagt Kamann, "aber den Teilnehmern."

Vor allem in China stößt das deutsche Ausbildungsmodell auf großes Interesse. Vor drei Jahren hat die deutsche AHK Wilhelm Dittrich nach Taicang geholt, um das dortige Ausbildungszentrum zu gründen. Der Berufsschullehrer aus Stuttgart hat nun 99 der 100 Schüler des ersten Jahrgangs erfolgreich zur Prüfung geführt, alle wurden von ihren Firmen übernommen. "Die Unternehmen schreien förmlich nach dem dualen System", sagt Dittrich. "Nirgends sind Auszubildende so in eine Firma eingebunden wie im dualen System."

Das Problem gibt es aber nicht nur in den asiatischen Schwellenländern, auch viele Industriestaaten kennen keine dem deutschen System vergleichbare Ausbildung. Als der Maschinenbauer Stihl in den 70er-Jahren sein erstes Werk in den USA eröffnete, war es für die Manager "ausgesprochen schwierig, qualifizierte Facharbeiter zu finden", sagt Peter Mueller, geschäftsführender Vizepräsident von Stihl in den USA, wo das Unternehmen Kettensägen, Kantenschneider für den Rasen und andere elektrische Geräte für den Außengebrauch herstellt. "Wir mussten sie selbst ausbilden." Die Stihl-Fabrik ist hoch automatisiert. "Ungelernte Arbeiter haben bei uns keine Chance. Ich brauche Leute, die die Automaten am Laufen halten können", sagt Mueller.

Der deutsche Mittelständler hat in Virginia Beach ein Ausbildungszentrum nach deutschem Muster aufgebaut. Die Lehrlinge, die aus dem eigenen Betrieb rekrutiert werden, durchlaufen ein vierjähriges Jobtraining, bei dem die praktische Schulung an den Maschinen des Betriebes durch theoretische Lektionen an einem Community College ergänzt wird. Das Konzept ist vergleichbar mit dem einer deutschen Fachhochschule.

Die duale Ausbildung ist mittlerweile sogar schon Thema bei Staatsbesuchen. Beim Indienbesuch von Bundesaußenminister Guido Westerwelle wurde das Thema am Dienstag auf höchster Ebene mit Ministerpräsident Manmohan Singh und Außenminister Somanahalli Mallaiah Krishna erörtert. In China ist man schon weiter. Diesen September eröffnete Ex-Berufsschullehrer Dittrich in Taicang ein zweites Ausbildungszentrum mit 200 Auszubildenden pro Jahrgang. Regelmäßig empfängt der Deutsche Besucher aus anderen Provinzen, die das Konzept am liebsten eins zu eins kopieren würden. "Das hat Wellen bis nach Peking geschlagen", sagt Dittrich. "Die Chinesen haben begriffen, was ihnen das bringen kann."

Indem deutsche Firmen ihre Ausbildungsstandards in alle Welt exportieren, verändern sie auch die dortigen Ausbildungssysteme. Länder wie Tschechien, Ecuador oder Vietnam richten ihre eigenen Bildungssysteme jetzt viel praktischer und firmengebundener aus. In Ecuador beispielsweise gilt das deutsche System jetzt als Vorbild für die flächendeckende Einführung eines dualen Ausbildungssystems. Auch die vietnamesische Regierung will ihr Berufssystem nach deutschem Vorbild modernisieren - um attraktiver zu sein für Investoren.

Für manche ist die Berufsausbildung made in Germany ein echter Karriereturbo. Wie für Adam Wei, 21, der gerade seine Ausbildung zum Industriemechaniker bei PWO in China abgeschlossen hat. "Ich liebe Technik", sagt der schlaksige junge Mann mit der dicken, schwarzen Brille, "ich habe hier unglaublich viel über Motoren und Design gelernt." PWO-Chef Hofäcker ist so angetan von dem neuen Gesellen, dass er ihn zum Ingenieurstudium nach Deutschland schicken will. Danach soll er Chinesen in Suzhou ausbilden.

Quelle: Financial Times Deutschland, Beitrag der Internetseite ftd.de, 21.10.2010