Lateinamerika glänzt durch stabiles Wachstum

Trotz der wirtschaftlichen Erfolge bleiben chronische Probleme, wie die Ungleichverteilung und der Fachkräftemangel bestehen. Die Chancen für deutsche Unternehmen sind enorm, allerdings sollte der Markteinstieg gut geplant sein.

 

Die ökonomische Stabilität Lateinamerikas wird von der aktuellen Finanzkrise in Europa nur wenig beeinflusst. Viele Länder nutzen die hohen Staatseinnahmen für den Ausbau von Infrastruktur und Energieversorgung. Auch der Bergbau und die Industrieproduktion expandieren.

 

Die jüngsten Entwicklungen in Lateinamerika sind beeindruckend. In den vergangenen zwei Jahren ist die Wirtschaft der Region um real 5,4 Prozent im Jahresschnitt gewachsen und trug somit 14 Prozent zum globalen Wirtschaftswachstum bei.

 

Länder wie Argentinien, Brasilien, Paraguay, Peru und Uruguay taten sich mit Werten zwischen 7 und 12 Prozent besonders hervor. Und der Trend hält an: Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge wird die Wirtschaftskraft der Region auch 2012 und 2013 mit einem Plus von real 3,7 beziehungsweise 4,1 Prozent zunehmen.

 

Hohe Investitionen in Infrastruktur und Energiesektor

 

Treiber dieser Entwicklung sind die großen Volkswirtschaften Südamerikas.

 

Brasilien expandiert als Folge einer langen Phase makroökonomischer Stabilität in vielen Sektoren und forciert mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 sowie die Olympischen Sommerspiele 2016 den Ausbau der Infrastruktur. Auch in Argentinien und Kolumbien heizen ein starker Inlandskonsum sowie die hohen Weltmarktpreise für Ausfuhrgüter die Wirtschaftstätigkeit an.

 

Die Gründe für die positive Entwicklung sind vielfältig und umfassen sowohl interne als auch externe Faktoren. Wie schon in den Jahren vor der weltweiten Wirtschaftskrise 2009 ermöglichen hohe Preise für Rohstoffe - beispielsweise für Erdöl und -gas (Bolivien, Venezuela), Soja, Mais und Weizen (Brasilien, Argentinien) - vielen Ländern hohe Einnahmen und Handelsbilanzüberschüsse.

 

Im Jahr 2011 stiegen die Exporterlöse der Region um 23 Prozent und erreichten mit gut 1 Billion US-Dollar eine Rekordmarke. Am stärksten konnten Venezuela (plus 40,0 Prozent), Bolivien (plus 31,5 Prozent), Argentinien (plus 25,3 Prozent) und Paraguay (plus 23,7 Prozent) profitieren.

 

Daneben ist Lateinamerika von den Währungsturbulenzen in Europa und der moderaten Konjunktur in den USA nur am Rand betroffen. Hauptgründe dafür sind die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik und das gesunde Finanzsystem.

 

Sigrid Zirbel, Lateinamerika-Expertin des Bundes der Deutschen Industrie (BDI), betont: "Die meisten Volkswirtschaften der Region stehen recht gut da."

 

Im Zusammenspiel mit den hohen Exporterlösen vergrößerten die Zentralbanken ihre Devisenreserven, allein Brasilien und Mexiko konnten ihre Rücklagen 2011 um zusammen 85,5 Milliarden US-Dollar erhöhen. Die Konsolidierung von Auslandsschulden führte dazu, dass die öffentlichen Haushalte heute mit durchschnittlich 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) einen im internationalen Vergleich niedrigen Schuldenstand haben.

 

Die Auswirkungen des positiven Marktumfelds sind vielfältig und ziehen weitere Konjunkturimpulse nach sich. Laut Institutional Investor ist die Gefahr von Finanzierungsengpässen und Kreditausfällen mittlerweile sehr gering. Dem Länderranking der Agentur zufolge konnten die sieben größten Volkswirtschaften ihr Ausfallrisiko 2011 verringern.

 

Für ausländische Direktinvestitionen bietet Lateinamerika ein immer beliebteres Ziel, wie die Steigerung der Kapitalanlagen um 73 Prozent auf 133,4 Billionen US-Dollar (netto) 2011 zeigt. Die Auslandsschulden (öffentlich und privat) haben sich anteilig am BIP von 37 Prozent im Jahr 2001 auf 22 Prozent im Jahr 2011 verringert.

 

Eine weitere Konsequenz der günstigen Wirtschaftslage zeigt sich in den Geschäften und Einkaufszentren Lateinamerikas: Die Konsumenten sind zunehmend in Kauflaune und befeuern dadurch die Importnachfrage.

 

Allein für Brasilien spricht man infolge des Aufschwungs von einer neuen Mittelschicht von rund 30 Millionen Personen. Die Warenimporte der gesamten Region legten 2011 um 23 Prozent zu. Daran hatten neben den Haushalten auch die Unternehmen einen maßgeblichen Anteil.

 

Letztere sehen die Steigerung der Produktivität als notwendig an, um im Wettbewerb mit asiatischen Staaten zu bestehen und Marktanteile erobern zu können. Als Folge nehmen die Einfuhren von Investitionsgütern zu.

 

Von 2006 bis 2011 hat sich laut Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau (VDMA) der Gesamtumsatz von Maschinen in Lateinamerika nahezu verdoppelt (von 28 Milliarden auf 53 Milliarden Euro).

 

Deutsche Lieferungen stiegen allein von Januar bis September 2011 um 20,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

 

Die sich ergebenen Chancen nutzen deutsche Unternehmen nach Meinung von Experten noch zu wenig. Dr. Reinhold Festge, Vorsitzender der Lateinamerika-Initiative der Deutschen Wirtschaft (LAI), merkt an: "Es wäre auf jeden Fall ein Riesenfehler, sich in Lateinamerika nicht noch intensiver zu engagieren."

 

Die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank (IDB) rät den Regierungen aktuell zu Investitionen in die Infrastruktur, ohne die finanzpolitische Stabilität zu gefährden.

 

Brasilien will bis 2030 im Jahresschnitt umgerechnet 140 Milliarden Euro für Bau und Infrastruktur ausgeben

 

Diesen Rat nimmt sich insbesondere Brasilien zu Herzen, das angesichts der boomenden Wirtschaft und der Megaevents 2014 und 2016 die unzureichenden Versorgungswege erweitern muss. Bis 2030 sollen im Jahresschnitt umgerechnet 140 Milliarden Euro in Bau und Infrastruktur gepumpt werden, der Großteil davon in Energieerzeugung und Wasserwirtschaft.

 

Auch die übrigen Länder der Region machen auf sich aufmerksam: Chile punktet durch seine starke Integration in die Weltmärkte, Mexiko ist als Produktionsbasis für Lieferungen in die USA interessant und selbst mit dem wirtschaftlich vergleichsweise kleinen Peru hat der deutsche Handel 2011 die Grenze von 2 Milliarden Euro überschritten.

 

Auf Expansionskurs ist auch Kolumbien, das nach einer langen Phase der Unsicherheit in den vergangenen fünf Jahren um durchschnittlich 4,4 Prozent gewachsen ist. Thomas Voigt, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie- und Handelskammer, meint: "Der Nachholbedarf im Land ist riesig, insbesondere der Bergbau bietet enorme Möglichkeiten."

 

Bei aller Euphorie dürfen die chronischen Probleme vieler Staaten nicht übersehen werden.

 

Der Rohstoffboom der letzten Jahre ist gleichzeitig die Achillesferse der Region, da die eigene Entwicklung langfristig an die globale Konjunktur gekoppelt bleibt.

 

In Südamerika beliefen sich laut Internationalem Währungsfond (IWF) die Nettoexporte an Rohstoffen 2010 auf circa 10 Prozent des BIP - gegenüber lediglich 6 Prozent in den 70er Jahren.

 

Im Hinblick auf die wichtigsten Handelspartner konnte die Abhängigkeit von den USA zwar etwas verringert werden, inzwischen tritt China jedoch als großer Rohstoffimporteur und Warenexporteur auf. Bereits 2015 wird das asiatische Land voraussichtlich Lateinamerikas zweitwichtigster Handelspartner sein, noch vor der Europäischen Union.

 

Facharbeitermangel und schwerfällige Bürokratie als Wachstumsbremse

 

Andere Entwicklungsrisiken haben ihren Ursprung in den Ländern selbst.

 

Die große Ungleichheit behindert die Teilhabe aller Bevölkerungsschichten am Wachstum und führt nicht zuletzt zu einem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften.

 

Laut einer Umfrage des Deutsch-Mexikanischen Industrie- und Handelskammer geben beispielsweise in Mexiko 46 Prozent der Unternehmen an, Schwierigkeiten bei der Einstellung von Facharbeitern zu haben.

 

Auch in Chile und Brasilien ist der Arbeitsmarkt angespannt. Dort kommt neben dem geringen Ausbildungsstand die konjunkturbedingt hohe Nachfrage nach Arbeitskräften hinzu. Durch Stipendien- und Sozialprogramme versuchen die Regierungen, Chancen auf Bildung zu verbessern.

 

Auch verkrustete Staatsapparate gelten als typisches und hausgemachtes Problem der Region, wobei es dem Doing Business Report 2012 der Weltbank zufolge große Unterschiede gibt. Während Chile (Rang 39), Peru (Rang 41) und Kolumbien (Rang 42) gut platziert sind und besonders beim Schutz von Investoren punkten, tun sich Argentinien (Platz 113) und Brasilien (Platz 126) schwer.

 

Deutsche Firmen in Brasilien klagen über das undurchsichtige Steuersystem, die hohe Abgabenlast und die lange Bearbeitungsdauer von Anträgen und Genehmigungen. In Argentinien kommen zur schwerfälligen Bürokratie die Versuche der Regierung hinzu, den Devisenabfluss durch Importhindernisse zu stoppen.

 

Und trotzdem: Fast alle Länder Lateinamerikas blicken den kommenden Jahren optimistisch entgegen. Die geringen Auswirkungen der Krisen in den USA und Europa haben gezeigt, dass die Region ihren eigenen Weg gehen kann und ein nachhaltiges Wachstum verzeichnet.

 

Besonders im Fall Brasiliens denken zahlreiche deutsche Unternehmen zurzeit über einen Markteinstieg nach. Dr. Susanne Engelbach, Südamerikareferentin des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, meint: "Für viele Maschinenbauer steht die Entscheidung für den Ausbau am Standort Brasilien bereits fest. Was fehlt sind aber Rezepte für die Umsetzung."

 

Deutsche Exportwirtschaft in wichtigen Branchen traditionell stark vertreten

 

Neben dem Maschinen- und Anlagenbau rechnen sich weitere Industriezweige, in denen die deutsche Exportwirtschaft traditionell stark vertreten ist, gute Geschäftschancen aus.

 

Im Kraftfahrzeug-Bereich hat Audi im April 2012 den Bau einer Produktionsanlage in Mexiko bekanntgegeben. Dort hatte zuvor schon Volkswagen den Grundstein für ein neues Motorenwerk gelegt.

 

BMW prüft die Eröffnung eines Montagewerks in Brasilien und auch Mercedes-Benz denkt über die Fertigung eines Kompaktmodells vor Ort nach. Experten zufolge wuchs der südamerikanische Markt für ausländische Fahrzeuge zwischen 2006 und 2010 um 50 Prozent.

 

Zudem bieten die geplanten Investitionen in die Infrastruktur Chancen für eine ganze Reihe von Branchen. Allein in Brasilien werden bis 2030 gut 700 Milliarden Euro in den Energiesektor fließen. Unter anderem will die Regierung mit dem Geld den Anteil der erneuerbaren Energien an der Gesamterzeugung steigern, der schon heute bei knapp 50 Prozent liegt.

 

Um die Wasserversorgung zu modernisieren und zu erweitern sind von brasilianischer Seite 102 Milliarden Euro veranschlagt, ein großer Teil davon für die Wasserreinigung.

 

Auch kleinere Volkswirtschaften, wie Peru, bereiten sich auf den Ausbau der Stromerzeugung und -übertragung vor. Der Andenstaat will dem Energiekonzept der Regierung zufolge bis 2040 über 18.000 Megawatt an zusätzlicher Leistung installieren und rund 25 Milliarden US-Dollar für die Steigerung der Energieeffizienz ausgeben.

 

Im Bergbausektor planen viele Unternehmen, die Gewinne der letzten Jahre in die Erweiterung der Ausrüstung und die Erschließung neuer Förderstätten zu investieren. Der Anteil der Kapitalanlagen in Lateinamerika an den globalen Investitionen des Sektors wächst stetig. Bereits in den vergangenen 20 Jahren ist er von 12 auf 35 Prozent gestiegen.

 

Auch hierbei können deutsche Firmen profitieren. Neben Herstellern von Maschinen und Förderausrüstung kommen verstärkt Produzenten aus den Bereichen Elektronik, Elektrotechnik, Chemie und Umwelttechnik zum Zug.

 

Für deutsche Unternehmen ist Lateinamerika in vielerlei Hinsicht ein Zukunftsmarkt, auch wenn der Geschäftsaufbau teils einen langen Atem erfordert.

 

Laut Thomas Voigt ist ein geeigneter Partner vor Ort für Mittelständler sehr empfehlenswert: "Gute Kenntnisse des Zielmarkts sind extrem wichtig, auch den Aufbau von Kontakten kann ein Geschäftspartner unterstützen."

 

Ist der Einstieg jedoch erst einmal geglückt, bietet die Region aufgrund ihrer momentanen Dynamik hervorragende Perspektiven.


Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, 21.06.2012