Acht Jahre nach Arabischem Frühling: Der Traum der Tunesier ist vorbei

Vor acht Jahren brach sich die Wut der Tunesier im Arabischen Frühling Bahn. Heute scheint die Hoffnung von damals verschwunden - besonders in Kasserine, wo die Proteste begannen.

"Wach auf, Kasserine, wach auf, die Parteien versprechen nur Lügen, wach auf, Kasserine, wach auf. Wir sind alle gekommen, Du liegst uns am Herzen." Eine Handvoll Jugendlicher hat sich auf dem Platz der Märtyrer im Zentrum von Kasserine versammelt. Sie halten die tunesische Fahne hoch und singen ein selbst gedichtetes Lied.

Kasserine: Arm und rebellisch

Sie fordern vor allem Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit liegt hier bei 50 Prozent. Kasserine ist nur 350 Kilometer von der Hauptstadt Tunis entfernt - und doch ist es eine andere Welt. Die Stadt liegt am Fuße des Chambi-Gebirges, an der algerischen Grenze. Im Winter ist es eisig kalt, im Sommer glühend heiß. Seit den 1970er Jahren hält hier kein Zug mehr. Die Gleise des einst schmucken Bahnhofes sind von Gras überwachsen, eine einsame Lok rostet vor sich hin. Viele Läden sind geschlossen. Kein Umsatz.

Kasserine war immer arm, heute ist es die viertärmste Stadt Tunesiens. Gleichzeitig war Kasserine immer rebellisch, 2011 zählte es zu den Vorreiterstädten des Arabischen Frühlings. 20 Demonstranten kamen bei Schießereien mit der Polizei ums Leben. Kasserine ist bis heute rebellisch geblieben. Denn verbessert hat sich für die Bewohner seit 2011 nichts. Das Leben ist schwerer geworden.

Auf dem Markt gibt es zwar Gemüse wie Karotten, Kartoffeln, Lauch und Orangen, weil es Saison dafür ist. Fleisch sucht man aber vergeblich. Und selbst das Gemüse ist für die meisten kaum mehr erschwinglich. Hlima Nasraoui erzählt, sie könne sich mit Mühe etwas Gemüse leisten, um eine Suppe zu kochen. Und Abderraouf Hamzaoui erklärt, man müsse auf alles sparen. Fleisch zu kaufen, das sei nicht mehr möglich. Ein Kilo Fleisch kostet 25 Dinar. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 450 Dinar, das sind etwa 130 Euro. Doch in Kasserine verdient kaum einer mehr als 300 Dinar - im Monat. Die Kluft zwischen dem vernachlässigten Hinterland und den durch den Tourismus reichen Küstenregionen wird immer größer.

Kameramann verbrennt sich aus Protest

Auf dem Platz beschwören sie jetzt das vernachlässigte Kasserine. Wut klingt durch. Vor allem, wenn sie von dem Journalisten "Rzouga" sprechen. Der freie Kameramann eines lokalen Senders hat sich kurz vor Weihnachten verbrannt. Wie seinerzeit der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi im benachbarten Sidi Bouzid vor acht Jahren. Aus Verzweiflung, wegen der Willkür der Polizei. Sein Tod war die Initialzündung für die Demonstrationen, die schließlich zur Flucht des Langzeitmachthabers Ben Ali führten.

"Rzouga" hatte vor seinem Selbstmord ein Video gepostet, auf dem er die Tat ankündigte und eine neue Revolution forderte. Der Journalist Borhene Yahyaoui kannte "Rzouga" gut, sie waren Kollegen. Er kommt oft auf den Platz, an dem er sich umgebracht hat. "In seinem Video hat 'Rzouga' gesagt, nichts habe sich in den letzten acht Jahren geändert. Wenn seine berufliche Situation besser gewesen wäre, wäre er nicht so deprimiert gewesen", sagt er.

Der arbeitslose Ingenieur Waed Gharsalli ist überzeugt: "'Rzouga' hat uns ein Testament hinterlassen. Während der Revolution von 2011 haben sich junge Leute geopfert in der Hoffnung, dass das Leben in Kasserine besser würde. 'Rzouga' hat die Menschen von Kasserine aufgerufen, ihre Rechte lautstark einzufordern - und wir folgen seinem Aufruf."

Hohes Bildungsniveau, hohe Arbeitslosigkeit

Seit zwei Wochen versammeln sie sich auf dem Platz der Märtyrer, jeden Tag. Sie singen und fordern ein Recht auf Arbeit.

Am Rande der Kundgebung steht Mohammed Taher Khadhroui. Der 50-Jährige war 2011 einer der Anführer der Proteste gegen Ben Ali. Heute - acht Jahre danach - fühlt er sich an damals erinnert. "Wir haben auch mit 15 Protestlern angefangen, dann kamen immer mehr dazu. Das Gleiche machen sie heute. Sie wollen das Bewusstsein der Leute von Kasserine wecken. Sie demonstrieren friedlich für ihre Rechte."

Das Recht auf Arbeit: Tunesien ist stolz auf sein Bildungsniveau. Die Zahl der Jugendlichen mit Diplom ist die höchste in den Maghreb-Staaten. Gleichzeitig ist die Zahl der arbeitslosen Diplomierten auf Rekordniveau. In den 1980er Jahren habe die Regierung beschlossen, jedem Bildung zugänglich zu machen, erklärt der Soziologe Foued Gharbeli. Schule, Ausbildung, Universität wurden zur "Massenware". Die Schule sei heute kein Garant mehr für sozialen Aufstieg, sagt Gharbeli. "Im Gegenteil: Die Anforderungen des Arbeitsmarktes und die Qualität der Ausbildung klaffen weit auseinander."

Jugendliche klagen an

Abends in Kasserine: Die meisten Männer hängen in irgendwelchen Cafés herum, die Frauen sind zu Hause. Haythar, ein Maler und Musiker, hat in einer dunklen Seitenstraße ein Lokal aufgemacht. "La Cabane" (Die Hütte) ist winzig. Aber sie bietet jungen Künstlern eine Art Heimat. Im ersten Stock üben einige Gitarre, im Erdgeschoss treffen wir Mohammed Zorgui bei einem Tee. Der 29-Jährige ist im bürgerlichen Leben Anstreicher. Im erträumten Leben nennt er sich "Gladiator" und ist Rapper.

Seine Texte klagen an: die Islamisten, Allah, die Gesellschaft und die Politiker: "In Eurem Leben seid ihr nichts wert, ich verkaufe mein Land nicht, selbst wenn ich dafür sterben muss. Ich gehe vor der Ungerechtigkeit nicht in die Knie. Mein Land ist gut, doch die, die es regieren, sind krank."

Mohammed Taher Khadhraoui kommt oft hierher, er diskutiert mit den Jungen. Man lebe im Moment in einer gefährlichen Phase, sagt er, doch sein Vertrauen in die Jugend ist groß. "Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, würde ich zu Hause sitzen. Kasserine ist der Gradmesser für Tunesien. Und dieser Gradmesser wird beweisen, dass die positiven Änderungen in Tunesien seit der Revolution, die Meinungsfreiheit von jungen Leuten wie denen hier getragen wurde."

Akademiker wandern ab

Der Rapper "Gladiator" stimmt dem zu: "Wenn Du die Hoffnung verlierst, dann wirst Du wie ein Tier. Du musst Dich für etwas engagieren. Das versuche ich mit meiner Musik. Der Rap ist der Straße am nächsten, er enthüllt all das Scheußliche, das die Jugend erleben muss. Ich thematisiere in meinen Liedern alles. Ich gebe zu, auch ich habe daran gedacht, Tunesien zu verlassen. Wegen der Armut. Aber dann könnte ich meine Familie nicht mehr sehen."

Mehr als 100.000 Akademiker haben seit 2011 ihre Heimat verlassen, um im Ausland zu arbeiten. Und der Exodus ist noch lange nicht zu Ende. Laut einer Studie wird es im Jahr 2025 keine Ärzte mehr in Tunesien geben, keine Ingenieure mehr.

Der 35-jährige Soziologe Foued Gharbeli, der 2011 an vorderster Front gegen das Regime demonstrierte und dafür sogar im Gefängnis saß, spricht von der tiefen Vertrauenskrise zwischen der Bevölkerung und der Regierung. Die Jungen, die das Land verlassen, sagt er, "suchen in Europa das Leben, ein würdiges Leben. Sie fühlen sich hier von der Gesellschaft verstoßen. Das größte Problem Tunesiens heute: Wir haben keinen kollektiven Traum mehr."

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Quelle: ZDF, zdf.de, 14.01.2019