Spanien mit neuem Licht und langen Schatten

Die Folgen der Rezession wirken nach. Gerade viele junge Menschen haben sie als tiefen Einschnitt erlebt, der ihre Berufs- und Aufstiegschancen über den Haufen geworfen hat. Jeder fünfte spanische Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren war Anfang 2015 ohne Arbeit.

Spaniens lange und schwere Rezession liegt in der Vergangenheit. Im 2. Quartal 2015 befand sich die fünftgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union (EU) bereits acht Quartale in Folge auf Expansionskurs, stand also kurz vor Beginn des dritten Erholungsjahres. Für ein nachhaltiges Wachstum muss der Reformprozess weitergehen. Doch im Wahljahr 2015 ist es die Bevölkerung, die die Weichen stellt.

Wirtschaftlich war der Start ins Jahr 2015 furios. Die Schnellschätzung des spanischen Statistikamtes für das 1. Quartal ergab eine Ausweitung des Bruttoinlandsprodukts um 0,9 Prozent gegenüber dem Vorquartal und um 2,6 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum. Das 2. Quartal schickte sich an, diese Werte noch zu übertreffen.

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Alle Bestandteile der Inlandsnachfrage spielen mit: dank der Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und einer Steuerreform verstärkt sich der private Verbrauch; da es sich um ein Wahljahr handelt, könnte auch der öffentliche Konsum etwas zunehmen; die gute Investitionsstimmung der Unternehmen lässt sie weiterhin in Ausrüstungen investieren; und als letzter Rekonvaleszent der Binnennachfrage kommen die Bauinvestitionen auf die Beine, die erstmals nach sieben Jahren der Rückgänge wieder zunehmen und den Tief- und Hochbau betreffen.

 

Teure Korrekturen früherer Verzerrungen

 

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Ihre absolute Mehrheit hat die regierende konservative Volkspartei genutzt, um eine Vielzahl weiterer Reformen auch an anderer Front durchzubringen, etwa im Arbeitsrecht, dem Bildungswesen, der Vereinheitlichung des spanischen Marktes, dem unternehmerischen Umfeld. Sie sollen die Wirtschaft auf Dauer flexibler, internationaler, wettbewerbsfähiger und nachhaltiger machen. Kritikern gehen sie nicht immer weit genug. Es ist aber noch zu wenig Zeit verstrichen, um ein endgültiges Urteil zu fällen.

Last verloren hat die Volkswirtschaft durch die schmerzhafte, weil mit großen Arbeitsplatzverlusten verbundene Rückbildung des einst überdimensionierten Bausektors um mehr als die Hälfte auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2014. Und sie hat durch die innere Abwertung von Löhnen und Preisen Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen, die in den Zeiten des Booms abhandenkam und nun den Unternehmen bei der Umorientierung auf ausländische Märkte zum Vorteil wurde. Die Lohnstückkosten sinken seit 2010 und dürften 2015 erst geringfügig zunehmen.

Für ausländische Investoren ist der Standort Spanien attraktiv. An vorderster Stelle stellt das die Automobilindustrie unter Beweis, deren ausländische Konzerne anhaltend in ihre spanischen Niederlassungen investieren. Schlagzeilen machte zuletzt Volkswagen mit der Ankündigung, in den nächsten fünf Jahren 4,2 Milliarden Euro in das Seat-Werk in Martorell und das Volkswagen (VW)-Werk in Navarra zu investieren.

Die neuen Flügel sind also made in Spain. Sie allein aber würden für die gegenwärtige Wachstumsdynamik nicht ausreichen. Zusätzlicher Auftrieb kommt von außen, durch eine Kombination von Faktoren, die - vorübergehend - wie ein eigenes Konjunkturprogramm wirken: niedrige Erdölpreise, die Konsumenten und Unternehmen entlasten; das Staatsanleihen-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB), das dem spanischen Staat bis ins Jahr 2016 hinein günstige Finanzierungsbedingungen sichert; die Abwertung des Euro, die der neuen Exportstärke und weiteren Internationalisierungsanstrengungen entgegenkommt; verbesserte Wachstumsaussichten für die wichtigsten Handelspartner Spaniens, an vorderster Stelle Frankreich und Deutschland.

 

Ein Aufschwung, den viele Menschen noch nicht spüren

 

Risiken erwachsen im Wahljahr 2015 aus den Schatten der langjährigen Rezession - sehr hoher Arbeitslosigkeit, gestiegener Ungleichheit, gefallenen Einkommen, massenweise zwangsgeräumten Wohnungen, dem reduzierten Handlungsspielraum des Staates bei anhaltenden Sparzwängen. Obwohl das BIP in diesem Jahr in Spanien so kräftig ansteigen könnte, wie in keinem anderen EU-Land, bleibt es vor allem ein Wirtschaftsindikator.

Über das Ende der Krise oder gar die Zufriedenheit der Gesellschaft gibt diese Kennziffer keine Auskunft. Zwar war der Rückgang der Wirtschaftsleistung über fünf Jahre mit einer Zunahme des Unglücks für Millionen von Menschen in Spanien verbunden. Doch gilt das in umgekehrter Richtung nicht unmittelbar, da der Anschluss an das frühere Wohlstandsniveau statistisch erst 2017 wieder erreicht werden dürfte und das nicht unbedingt von allen betroffenen Teilen der Bevölkerung.

Im April hielten nach einer Umfrage des Zentrums für Soziologische Studien CIS 70 Prozent der Befragten die aktuelle Wirtschaftslage weiterhin für schlecht bis sehr schlecht. Als größtes Problem bezeichneten die Menschen die Arbeitslosigkeit. Aber auch Korruption, Wirtschaftsprobleme, Politik und die durch Sparmaßnahmen betroffene Gesundheitsversorgung treiben sie um.

Die Gesellschaft wirkt insgesamt hellhöriger und kritischer. Sie reagiert vor dem Hintergrund der erlebten Einbußen empörter auf die bekannt werdenden Fälle von Vetternwirtschaft und Korruption.

Das hat nicht zuletzt zu der Herausbildung junger politischer Kräfte beigetragen, der linken Bewegung Podemos (Wir können) und der bürgerlichen Partei Ciudadanos (Bürger). Sie haben in den Kommunal- und Regionalwahlen am 24.5.15 erstmals die Herrschaft der seit Jahrzehnten im Wechsel regierenden Parteien, der Konservativen und der Sozialdemokraten (Partido Popular PP und Partido Socialista Obrero Español PSOE), aufgebrochen. Ein Linksrutsch in vielen Regionen und Gemeinden zeichnet sich ab, darunter mit Madrid und Barcelona in den beiden größten Städten Spaniens.

Die Folgen der Rezession wirken nach. Gerade viele junge Menschen haben sie als tiefen Einschnitt erlebt, der ihre Berufs- und Aufstiegschancen über den Haufen geworfen hat. Jeder fünfte spanische Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren war Anfang 2015 ohne Arbeit. Es ist eine Erfahrung, die Jugendliche künftig aber auch zwingen könnte, mehr auf ihre berufliche Ausbildung zu achten und an ihrer Qualifikation zu arbeiten. Trotz sinkender Werte hält Spanien in Europa immer noch den Negativrekord bei den frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgängern (2014: 22 Prozent).

Auf der anderen Seite braucht es aber auch eine neue Unternehmensmentalität, die die Bildung nicht dem Staat überlässt, sondern die neuen rechtlichen Chancen nutzt, Ausbildungsverantwortung übernimmt und Finanzierungsanteile. Wenn 2014 und 2015 rund eine Million Arbeitsplätze geschaffen werden, ist das ein riesiger Schritt nach vorn, der bis vor kurzem noch kaum erreichbar schien. Dennoch wäre es erst weniger als ein Drittel der in der Rezession zerstörten Arbeitsplätze, und es stellt sich die Frage nach ihrer Qualität. Die EU-Kommission hält die Jugend- und die Langzeitarbeitslosigkeit für die dringlichsten Herausforderungen, da eine strukturelle Verfestigung drohe, die zu beruflicher und sozialer Ausgrenzung führen könne.

 

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Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, Die GTAI Online-News, 09.06.2015