Ein deutsches Modell macht Schule

Bessere Ausbildung soll die Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpfen. Die duale Ausbildung aus Deutschland wird schon als Exportschlager gefeiert - aber verdient sie ihren guten Ruf wirklich?

Michael Wiechert gefällt das Wort "Exportschlager" für die duale Ausbildung nicht. "Wir exportieren nicht, wir kooperieren und beraten", sagt er abwehrend. Wiechert ist Leiter der neugegründeten Zentralstelle für internationale Berufsbildungskooperation im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB).

Seine Abteilung unterstützt andere Länder, die mehr Praxis in die Ausbildung bringen wollen. So, wie es auch in Deutschland ist. Damit will Wiechert aber nicht auftrumpfen. "Wir kommen nicht als deutscher Weltmeister," sagt er. Klassenbester ist Deutschland trotzdem.

Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist so hoch, dass man schon von einer "verlorenen Generation" spricht. Bei den 15- bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt der Europäischen Union (EU) bei rund 23 Prozent, ermittelte das Statistische Bundesamt. In Griechenland und Spanien sind es sogar mehr als 50, in Deutschland dagegen nur rund acht Prozent. Zum Teil liegt es daran, dass Deutschland eine starke Wirtschaft und wenige Jugendliche hat, die lange die Schule besuchen. Es liegt aber auch am Ausbildungssystem.

Die duale Ausbildung ist in Deutschland so selbstverständlich, dass man sich erst vor Augen halten muss, wie gut sie ist: Durchschnittlich vier Tage pro Woche im Betrieb, einen Tag Berufsschule. Praxiserfahrung von Anfang an. Und ein Arbeitgeber, der seinen Lehrling kennt und daran interessiert ist, ihn zu übernehmen. Das ist keinesfalls üblich.

 

Ausbildung nur in der Berufsschule

 

In anderen Ländern wird nur in der Berufsschule ausgebildet. Der Azubi sammelt weder praktische Erfahrungen noch Kontakte. "Langzeituntersuchungen zeigen, dass Menschen mit dieser Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt erfolgreicher sind, als Menschen, die ihren Beruf nur in einer Berufsschule gelernt haben", sagt Simon Field von der Abteilung für Bildung der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; englisch: Organisation for Economic Co-operation and Development). Was sich in Deutschland bewährt hat, sollte auch anderen Jugendlichen helfen. Das Interesse an der dualen Ausbildung sei mit der Krise in Europa gestiegen, so das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Am 11. Dezember 2012 einigten sich deshalb sechs EU-Länder auf ein Memorandum. Minister der von der Krise besonders betroffenen Staaten Griechenland und Spanien, sowie von Portugal, Italien, Slowakei und Lettland unterschrieben gemeinsam mit der damaligen Bildungsministerin Annette Schavan zehn Punkte, um die praxisorientierte Bildung zu fördern.

Eine der ersten Maßnahmen für Deutschland war es, die Zentralstelle einzurichten, die Michael Wiechert nun leitet. Fast zeitgleich mit der Eröffnung Anfang diesen Monats kritisiert allerdings der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), wie wenig sonst geschehen sei: "Außer Absichtserklärungen und ein paar gut gemeinten Projekten ist aus dem Europäischen Bildungsgipfel vom Dezember 2012 bisher nicht viel herausgekommen", heißt es in einem Statusbericht.

Die Kooperation mit Lettland habe noch nicht richtig begonnen, und die portugiesischen Arbeitgeberverbände würden nicht einsehen, warum sie eine Ausbildungsvergütung bezahlen sollten. "Die beteiligten Länder tun sich sehr schwer", sagt Elke Hannack, stellvertretende Vorsitzende des DGB. Der DGB spricht Schwierigkeiten an, die auch Experten internationaler Einrichtungen sehen: Die duale Ausbildung gut zu finden, ist einfach. Sie einzuführen, aber schwierig.

 

Ein komplexes System

 

"Das System ist komplex, es gibt so viele Akteure", sagt Lisa Freiburg vom Internationalen Zentrum für Berufsbildung der UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur, englisch: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization). Betriebe müssten Stellen für Auszubildende schaffen, Berufsschulen müssten sich mit den Betrieben abstimmen und Gewerkschaften Ausbildungsverträge aushandeln. "In deutschen Firmen sind die Vorgesetzten selbst einmal Azubis gewesen", sagt Simon Field von der OECD. "In anderen Ländern ist das nicht der Fall und die Betriebe wissen nicht immer, wie sie ausbilden sollen."

Ein gutes Beispiel für die strukturellen Schwierigkeiten ist Portugal. Hier dauert die normale Ausbildung zweieinhalb Jahre und findet komplett an der Berufsschule statt. Zum Abschluss machen die Auszubildenden ein mehrmonatiges Praktikum.

"Das ist mit der deutschen Ausbildung nicht zu vergleichen, bei der die Azubis die ganze Zeit einen Ausbildungsbetrieb haben und auch zunehmend in den Produktionsprozess integriert werden", sagt Hans-Joachim Böhmer von der Deutsch-Portugiesischen Industrie- und Handelskammer.

"Wenn Betriebe in Portugal sich schwer tun, eine Ausbildungsvergütung zu zahlen, liegt es wahrscheinlich daran, dass sie den hohen Wert, den diese Ausbildung für sie hat, nicht erkennen und sich nicht bewusst sind, dass die Auszubildenden bereits in der Ausbildung in zunehmendem Maße zum Produktionsergebnis des Betriebes beitragen können."

So viel Praxis wie in Deutschland ist bei der Ausbildung in Portugal ohnehin nicht denkbar, denn dort machen die Auszubildenden zeitgleich mit ihrem Berufsabschluss das Abitur, müssen also mehr Zeit in der Schule verbringen.

 

Kooperationsvereinbarungen in der ganzen Welt

 

Das deutsche System eins zu eins zu übertragen, ist allerdings auch nicht das Ziel. Und alle Beteiligten wissen, dass Veränderungen Zeit brauchen. Die Krise in Europa hat die Idee, die duale Ausbildung einzuführen, vielleicht beliebter gemacht, neu ist sie nicht. Die Industrie- und Handelskammer unterstützt eine duale Ausbildung in Portugal bereits seit den achtziger Jahren. Inzwischen führt sie mit mehr als 200 Ausbildungsunternehmen eine duale Ausbildung durch, die an das deutsche System angelehnt ist.

Das BIBB unterhielt bereits vor dem Memorandum und der Einrichtung der Zentralstelle rund 30 Kooperationsvereinbarungen mit Einrichtungen aus aller Welt. Und das Bildungsministerium hat Kooperationsabkommen über berufliche Bildung unter anderem mit der Türkei, Brasilien und Israel.

"Bei allen Reformbemühungen kommt hinzu, dass auch die beste Jugendgarantie erst nachhaltige Perspektiven für junge Menschen schaffen kann, wenn es ausreichend Arbeitsplätze gibt", schreibt der DGB, und weist außerdem darauf hin, dass auch in Deutschland trotz dualem System nicht alles gut sei. "Das duale System ist nicht geeignet, Jugendarbeitslosigkeit zu beheben. Es bietet nur bessere Perspektiven der Ausbildung", sagt Hannack.

Wiechert ist das ebenfalls bewusst: "Eine duale Ausbildung kann die Jugendarbeitslosigkeit nicht vollständig auflösen." Aber gegen den Fachkräftemangel könne sie helfen.

Das ist ein Grund, warum es sich für Deutschland lohnt, andere von der dualen Ausbildung zu überzeugen. Deutsche Werke gewinnen damit Fachkräfte an ihren Auslandsstandorten und über Austauschprogramme vielleicht sogar für ihre Mutterwerke.

Von 2011 bis 2012 sind nach Berechnung der Agentur für Arbeit 33.000 deutsche Ausbildungsplätze unbesetzt blieben. Im Jahr davor waren es 13.000 weniger.


Quelle: Die Welt, 21.09.2013