Brasiliens Berufsbildungssystem stößt an seine Grenzen

Fachkräftemangel immer kritischer - Deutsche Firmen mit großem Engagement

Brasiliens Fachkräftemangel wird immer akuter. Den Grund sehen Experten im elitären und stark auf eine akademische Karriere ausgerichteten Schulsystem. Zudem wechseln Arbeitnehmer so oft den Job, dass viele Unternehmen nicht gewillt sind, in Qualifizierung zu investieren. Das Ausbildungssystem der Industrie (Senai) bildet zwar zielgerichtet aus, kommt aber der Nachfrage der Unternehmen kaum nach. Bis 2015 benötigt Brasilien rund 7,2 Millionen zusätzliche Techniker und Ingenieure.

Die Kritik vieler Fachleute am brasilianischen Bildungssystem beginnt schon mit den schlecht bezahlten und entsprechend gering motivierten Lehrern in der ersten Stufe der öffentlichen Schulen ("Ensino fundamental", für Schüler von 7 bis 14 Jahren). Während Kinder privilegierter Familien auf Privatschulen ausweichen, verschenkt Brasilien hier viel Potenzial in einfacheren Bevölkerungsschichten.

Die weiterführenden Schulen im "Ensino medio" (15 bis 17 Jahre) sind in ihrer Didaktik auf eine Universitätskarriere hin ausgelegt. Sie bieten daher eine technische Berufsausbildung nicht ernsthaft als alternativen und lukrativen Berufsweg an.

Zwar ist das Ensino medio seit der letzten Bildungsreform in eine klassische und eine technische Schiene aufgeteilt. Allerdings entwickelten sich die technischen Schulen zu einer Elite innerhalb des Ensino medio, so dass die umkämpften Plätze in der Regel gerade an diejenigen Schüler gehen, die keine Karriere als Techniker anstreben. Diese Jugendlichen wählen die Schule wegen ihrer hochwertigen Ausbildung und ihres guten Rufs, um danach auf der Universität beispielsweise Jura oder Betriebswirtschaftslehre zu studieren.

Schließlich gilt das Diplom als bessere Garantie für eine gutbezahlte Arbeit als eine technische Fachausbildung (auch wenn dies in der Realität oft anders ist). Womöglich technisch talentierte und interessierte Schüler aus ärmeren Familien unterliegen unterdessen bei den Aufnahmeprüfungen oft gegen die wohlhabende Konkurrenz, da sie zuvor keine der Privatschulen besucht haben.

Das Phänomen setzt sich auf der Universität fort. Von den rund 865.000 Hochschulabsolventen 2011 schlossen nur 7,3 Prozent ein Ingenieursstudium ab, während es beispielsweise in Chile 13,7 Prozent waren, in Japan 19 Prozent und in Malaysia 45 Prozent. Auffällig ist daneben die hohe Abbrecherquote unter den Studenten der Ingenieurswissenschaften, deren Anteil an den gesamten Studierenden immerhin bei 13 Prozent liegt.

Auch für Unternehmen erhöht sich der Druck, umzudenken und auf der Suche nach Fachkräften neue Ansätze zu verfolgen. Trotz guter Beispiele, wie das des deutschen Spezialmaschinenfabrikanten Grob, der in einer eigenen Werkstatt zukünftige Arbeitskräfte ausbildet, stehen einer mittel- und langfristigen Personalplanung oft kulturelle Hindernisse im Weg.

Brasilianer wechseln häufig den Arbeitgeber und bleiben ohne konkrete Aufstiegschancen in der Regeln nicht länger als zwei bis drei Jahre in derselben Firma. Das hält viele Unternehmen davon ab, in eine Qualifizierung des Personals zu investieren.

Die vorherrschende Einstellung in vielen Firmen ist es daher, bereits fertig ausgebildete Arbeitnehmer einzukaufen, sprich abzuwerben. Was bislang eher auf das Management beschränkt war, ist mittlerweile auf allen Ebenen technischer Fachkräfte die gängige Praxis.

"Alle wollen fertige Mitarbeiter", sagt Martin Gebhardt, Leiter der Berufsbildungsabteilung der Auslandshandelskammer (AHK) São Paulo. "Die Frage ist nur, woher diese kommen sollen, wenn niemand in Ausbildung investiert".

Fortbildungen beschränken sich in brasilianischen Firmen meist auf Seminare und kurzfristige Auffrischungen der Kenntnisse. Oft werden Kurse und Masterstudiengänge nicht als Qualifikationsmaßnahme, sondern als Zusatzleistung gewährt. Durch sie soll der Mitarbeiter eine Zeit lang im Unternehmen gehalten oder überhaupt erst frisch angeworben werden.

Dass es in Brasilien ein Mindestmaß an qualifizierten Fachkräften gibt, ist dem Senai/Senac-System zu verdanken, der brasilianischen Variante des IHK/HWK-Ausbildungssystems (IHK: Industrie- und Handelskammer, HWK: Handwerkskammer) in Deutschland. Dabei bildet Senai für die Industrie und Senac für Handel und Dienstleistungen aus.

Das dem Industrieverband CNI angeschlossene Ausbildungssystem finanziert sich über eine Abgabe aller Verbandsmitglieder von 1 Prozent der Lohnzahlungen und hat einen exzellenten Ruf. In landesweit über 800 Werk- und Ausbildungsstätten bildet Senai pro Jahr rund 2,5 Millionen Fachkräfte in 28 Industriefeldern aus und versorgt somit quasi die gesamt Industrie.

Mit Hilfe des Stipendienprogramms Pronatec will Senai die Absolventenzahl bis 2014 auf 4 Millionen steigern. Selbst das wäre nicht genug, um den geschätzten Bedarf von rund 7,2 Millionen zusätzlichen Fachkräften zu decken. Besonders in der Kraftfahrzeug-Industrie, im Maschinenbau, in der Öl- und Gasindustrie, im Lebensmittel- und Getränkebereich sowie in der Bauwirtschaft besteht eine hohe Nachfrage.

Da kein formelles Lehrling-Meister-System existiert, wird ein erfahrener technischer Facharbeiter (Técnico) im Rahmen des Senai-Systems nach einigen Jahren zum Ausbilder (Instrutor) befördert.

Trotz grundsätzlicher Zustimmung, zahlreicher Partnerschaften und reger Nutzung des Senai kritisieren viele Firmen, dass die Institution nicht rechtzeitig auf den schnell wachsenden Bedarf reagiert habe und abseits der großen Industriegebiete viele Ausbildungsprofile nicht bedient werden. So wird bemängelt, dass nur Großkonzerne ihren konkreten Bedarf anmelden können, wie zum Beispiel Daimler und Volkswagen, die in ihren Werken in São Bernardo do Campo eigene Senai-Schulen unterhalten.

Das Duale System nach deutschem Vorbild konnte sich bisher trotz mehrerer Initiativen nicht durchsetzen. Dauer und Kosten wirken abschreckend. Firmen setzen lieber auf die kürzeren und günstigeren Senai-Kurse. Immerhin bildete die deutsche Berufsschule in São Paulo (IFPA) in den rund 40 Jahren ihres Bestehens bereits 1.500 Brasilianer nach dem Dualen System aus, so zum Beispiel als angehende Chefsekretärinnen und -sekretäre, Industriekaufleute sowie Logistik- und Informatiktechniker.

Da die Studienplätze an den exzellenten staatlichen Universitäten und den wenigen angesehenen Privathochschulen begrenzt sind, gibt es auf dem Bildungsmarkt eine große Zahl privater Anbieter. Drei von vier brasilianischen Studenten sind an privaten Fakultäten eingeschrieben.

Auch Sprachschulen verzeichnen einen wahren Boom. Der private Bildungsmarkt befindet sich infolge einer Übernahmewelle in einer starken Konsolidierungsphase. Sehr aktiv und aggressiv sind die Unternehmen Anhanguera, Estácio, Kroton und Laureate.

Kritiker der privaten Einrichtungen bemängeln, dass das Bildungsministerium deren Qualität nicht immer gewährleisten kann. Viele Anbieter forderten zwar nur niedrige Studiengebühren, würden dafür aber auch nur eine sehr geringe Gegenleistung erbringen. Wichtiger als die tatsächliche Eignung ist bei Vorstellungsgesprächen daher oft, wo der Bewerber studiert hat. Somit bleibt die Elite vorerst unter sich.


Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, gtai.de, 27.03.2013