Vietnams Wirtschaftsboom ins Stocken geraten

In internationalen Rankings fällt Vietnam zurück. Die Regierung will nun Reformvorhaben umsetzen. Chronische Problemfelder wie Vetternwirtschaft, Korruption, mangelnde Rechtssicherheit, schwerfällige Bürokratie, Fachkräftemangel und schwache Finanzmarktkontrolle sollen schon seit vielen Jahren abgestellt werden.

 

Die zuletzt niedrigeren realen Wachstumsraten haben die strukturellen Defizite in Vietnams Volkswirtschaft offengelegt. Als besondere Schwachpunkte gelten ineffiziente, überschuldete Staatskonzerne und "faule" Kredite im Finanzsektor.

 

In internationalen Rankings fällt das Land deshalb zurück. Die Regierung will nun Reformvorhaben umsetzen. Trotz schwierigerer Rahmenbedingungen investieren ausländische Unternehmen weiter in Montagewerke. Wichtigster Standortvorteil bleiben die Arbeitskosten. Vietnams Wirtschaftswachstum wird 2012 auf das niedrige Niveau des Jahres 1999 von real knapp 5 Prozent zurückfallen.

 

Die Zeiten fulminanter jährlicher Zuwächse in dem jungen Schwellenland von durchschnittlich mehr als 8 Prozent zwischen 1992 und 1997 und von über 7 Prozent in der Periode 2000 bis 2007 scheinen zunächst vorbei. Auf einen höheren Wachstumspfad dürfte das ambitionierte Land erst wieder nach Überwindung der strukturellen Mängel zurückfinden. Die Regierung will chronische Problemfelder, wie Vetternwirtschaft, Korruption, mangelnde Rechtssicherheit, schwerfällige Bürokratie, Fachkräftemangel und schwache Finanzmarktkontrolle, seit vielen Jahren abstellen.

 

Nach der marktwirtschaftlichen Öffnung des Landes im Jahr 1986 entwickelte sich die südostasiatische Volkswirtschaft wie im Rausch. Zu viele Reformen wurden in der Euphorie versäumt oder zu langsam umgesetzt. Die Abkühlung der Weltkonjunktur legte 2012 schonungslos Lücken in der Infrastruktur und Defizite der Wirtschaftspolitik offen.

 

In einem einmaligen Vorgang entschuldigte sich im Oktober 2012 das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Vietnams beim Volk für das schwache Management der Volkswirtschaft, Fehler und Irrtümer. Premierminister Dung wurde verantwortlich gemacht für die gefährliche Schieflage staatlicher Banken und Konzerne sowie Vetternwirtschaft bei Projektvergaben. Seine Kompetenzen bei der Reform dieser Problembereiche beschnitt das Zentralkomitee, er bleibt aber im Amt.

 

Die Schwierigkeiten, die die Unternehmen überwinden müssen, finden ihren Niederschlag bei den Positionierungen in internationalen Vergleichen. So liegt Vietnam beim Korruptionsranking vonTransparency International zusammen mit Sierra Leone auf einem unrühmlichen Rang 123 von 176 untersuchten Staaten. Das ist schlechter als die Positionen des Nachbarn China auf Platz 80 oder die der etwa gleich großen Philippinen auf Rang 105.

 

Über das Ausmaß der Bestechlichkeit veröffentlichte die Weltbank im Oktober 2012 die Ergebnisse ihrer Umfrage. Öffentlich Bedienstete hatten demnach in den letzten zwölf Monaten vor der Umfrage rund 23 Prozent der in die Untersuchung einbezogenen Unternehmen mit Forderungen nach Vorteilsgewährung konfrontiert. Etwa drei Viertel der Befragten meinen, dass Korruption insbesondere bei der Verkehrspolizei, der Bodenverwaltung, dem Zoll und im Bauwesen "üblich" sei.

 

Beim Ranking "Ease of Doing Business" der Weltbank liegt Vietnam auf Platz 99 von 185 untersuchten Staaten. Das heißt, das Geschäftsumfeld ist ähnlich schwierig wie in China (Platz 91) und deutlich besser als in den Philippinen (Platz 138).

 

Bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ordnet das World Economic Forum Vietnam auf Platz 75 von 144 Ländern ein. Die Volksrepublik China auf Position 29 und die Philippinen auf Rang 65 stehen bei den Rahmenbedingungen vorteilhafter dar.

 

Neben dem grundsätzlichen Abschneiden beunruhigt, dass Vietnam sich bei diesen internationalen Vergleichen in den letzten Jahren relativ verschlechtert hat. Die Konkurrenten kommen bei der Verbesserung ihrer Rahmenbedingungen demnach schneller voran. Dabei will das südostasiatische Land bis 2020 eigentlich ein modernes Industrieland werden.

 

Landeskenner bestätigen, dass Hanoi gelegentlich erst mal einen Schritt zurück oder zur Seite gegangen ist, bis eine sinnvolle Reform auf dem Papier stand. Danach habe es oft an der Umsetzung gehapert. Viele sich inzwischen sogar widersprechende Gesetze und Verordnungen behindern den personell und fachlich schlecht besetzten öffentlichen Dienst zusätzlich. Unternehmen müssen in der Folge willkürliche und langsame Entscheidungen von Behörden und Gerichten hinnehmen.

 

Grundsätzlich begrüßt Vietnams Regierung ausländische Direktinvestitionen und den internationalen Handel. Mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) 2007 öffnete sie die meisten Waren- und Dienstleistungsmärkte. Das Ministerium für Industrie und Handel befürwortet sogar den Abschluss zusätzlicher Freihandelsabkommen ("Free Trade Agreements", FTA). Es verhandelt derzeit über neue FTA mit der Europäischen Union (EU), der Europäischen Freihandelszone EFTA, Korea (Republik) sowie über den Beitritt zur "Trans-Pacific Strategic Economic Partnership", der die USA angehören. Im Jahr 2013 sollen ebenfalls FTA-Verhandlungen mit der Ukraine und der Zollunion von Russland, Weißrussland und Kasachstan beginnen. Die liberale Handelspolitik steht auf der Habenseite der Regierung, auch wenn die jüngsten Erlasse protektionistische Maßnahmen enthalten.

 

Die Geldpolitik schafft es indes nicht, Wirtschaftswachstum und Preise im Gleichgewicht zu halten. Bereits 2008 mussten die Konsumenten eine sehr hohe Inflationsrate von 23,0 Prozent verkraften; die Realeinkommen fielen. Danach konnte die nicht unabhängige Zentralbank den Anstieg des Konsumentenpreisindexes eindämmen. Im Jahr 2011 beschleunigte ihre expansive Geldpolitik die Inflationsrate jedoch wieder auf 18,6 Prozent - die höchste in ganz Asien. Im Zeitraum Januar bis Oktober 2012 betrug die Geldentwertung immer noch 9,7 Prozent. Betriebe und Verbraucher verfügen angesichts der Preisschwankungen über keine Planungssicherheit.

 

Auch die staatliche Aufsicht über die Banken reicht nicht aus. Einige von ihnen befinden sich wegen einer zu lockeren Kreditvergabe in Schieflage. Nach Angaben von Zentralbankgouverneur Nguyen Van Binh schnellte die Quote der uneinbringlichen Kredite Ende September 2012 auf 8,8 Prozent. Fachleute meinen, dass sogar deutlich mehr "faule" Kredite vorliegen. Am stärksten leiden derzeit Darlehen, die in unrentable Immobilienprojekte gesteckt wurden.

 

Angesichts der negativen Meldungen von der Inflationsfront schwindet das generelle Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Finanzanlagen. Vermögende Vietnamesen und Kleinsparer kauften 2012 zunehmend Gold. Nach Angaben der Vietnam Gold Corporation horten sie zu Hause bereits mehr als 400 Tonnen des Edelmetalls.

 

Die öffentlichen Unternehmen bereiten ebenfalls Sorgen. Sie sollen seit Jahren reformiert, "verschlankt" oder privatisiert werden. Viele Staatskonzerne haben sich mit Engagements außerhalb ihrer Kernkompetenzen übernommen, melden verlustreiche Geschäfte und einige sind stark überschuldet. Gemäß einer Untersuchung des Finanzministeriums liegt ein gefährlicher Verschuldungsgrad ("debt to equity ratio") von mehr als 300 Prozent bei einem Drittel aller Staatsbetriebe vor.

 

Trotz der aktuellen Defizite gibt es immerhin eine positive Botschaft:

 

Vietnams größter Trumpf bleiben die rund 52 Millionen Erwerbspersonen. Sie sind fleißige Arbeitskräfte, die im Durchschnitt umgerechnet etwa 125 Euro monatlich verdienen. Damit liegt das Lohnniveau deutlich unter dem der Arbeitnehmer auf den Philippinen (über 200 Euro) oder dem in Chinas Städten (circa 350 Euro).

 

Der Industriestandort hat dank ihrer Hilfe seinen festen Platz als "verlängerte Werkbank" in der asiatischen Arbeitsteilung gefunden. Ausländische Investitionen fließen weiterhin in arbeitsintensive Fertigungen, die für den Weltmarkt produzieren. Neuerdings kommen auch anspruchsvollere Montagewerke dazu.

 

Um die nächsten Entwicklungsschritte zu vollziehen, sind allerdings bessere Rahmenbedingungen, innovativere Unternehmen und mehr Fachkräfte notwendig.


Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, 13.12.2012