Indiens Zeitbombe

Die Regierung in Neu-Delhi stellt die demografische Entwicklung Indiens vor eine riesige Aufgabe: Die jungen Leute müssen ausgebildet werden - und sie brauchen Jobs. "In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob Indien seine demografische Chance nutzen kann oder diese sich in eine tickende Zeitbombe verwandelt", sagt Efaz Ghani, Experte der Weltbank.

700 Millionen Inder sind unter 35 Jahre alt. Eine gute Ausbildung und ordentliche Jobs gibt es für die wenigsten

Autorin: Christiane von Hardenberg/Berlin

Auch ein Segen kann ein Fluch sein: Das Problem der Überalterung und des Arbeitskräftemangels kennt Indien nicht. Dafür kämpft das Land mit dem gegenteiligen Trend: In keinem anderen Staat der Welt leben so viele junge Menschen. 700 Millionen Inder sind jünger als 35 Jahre, das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Während in zehn Jahren das Durchschnittsalter in China bei 37 und in Japan sogar bei 48 Jahren liegen wird, werden es in Indien 29 Jahre sein.

Die Regierung in Neu-Delhi stellt das vor eine riesige Aufgabe: Die jungen Leute müssen ausgebildet werden – und sie brauchen Jobs. "In den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob Indien seine demografische Chance nutzen kann oder diese sich in eine tickende Zeitbombe verwandelt", sagt Efaz Ghani, Experte der Weltbank.

In der nächsten Dekade werden rund 120 Millionen junge Inder auf den Arbeitsmarkt strömen. Das Wachstum der Volkswirtschaft hält damit kaum Schritt. Zwar ist Indien trotz Konjunkturkrise in den vergangenen fünf Jahren im Schnitt um acht Prozent gewachsen, und jährlich sind 11,3 Millionen neue Jobs entstanden. Aber: "Der indische Arbeitsmarkt ist keine Erfolgsgeschichte", sagt Ghani. Denn die meisten Jobs entstanden in der Selbstständigkeit – und in Indien heißt das Straßenhändler oder Schuhputzjunge. Sie verdienen gerade einmal genug, um sich über Wasser zu halten.

Um den sozialen Frieden zu sichern, wird die Regierung "gute Jobs" schaffen müssen. "Vor allem müssen mehr Jobs in der arbeitsintensiven Industrie entstehen" sagt Guanghua Wan von der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB). Denn die indische Industrie trägt lediglich ein Viertel zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. In Indien arbeiten gerade einmal 18,2 Prozent der Bevölkerung in der Industrie, in China sind es 23 Prozent.

Größtes Hindernis für die Unternehmen ist die schwache Infrastruktur. Strom- und Wasserausfälle sind an der Tagesordnung. Straßen, Schienen und Flughäfen hoffnungslos überfüllt. Die indische Regierung will daher bis zum Ende des elften Fünfjahresplans 2012 die Investitionen von fünf auf neun Prozent des BIPs erhöhen.

Hinzu kommt, dass Indiens junge Bevölkerung sehr schlecht ausgebildet ist. "Die meisten kommen aus unterentwickelten Regionen und werden kaum in Callcentern arbeiten können" sagt Weltbankexperte Ghani. Zwar gehen 90 Prozent aller schulpflichtigen Kinder zu Schule, oft allerdings nicht regelmäßig. Die Bedingungen für den Unterricht sind miserabel. Ein Lehrer unterrichtet 60 Schüler. Immer noch sind 40 Prozent aller Inder Analphabeten, in China sind es nur acht Prozent.

Eine höhere Ausbildung genießen in Indien gerade mal 12, 4 Prozent aller Schüler. "Indien muss mehr in die Ausbildung seiner Leute stecken", sagt Ghani. Derzeit gibt die Regierung gerade einmal 3,2 Prozent des BIPs für Bildung aus, sechs Prozent müssten es sein. "Ohne Reformen wird die demografische Chance schnell zur Gefahr" sagt Ghani. Und auch ADB-Experte Wan mahnt: "Arbeitslosigkeit wird ein großes soziales und politisches Problem in Indien werden".

Quelle: Financial Times Deutschland vom 09.02.2010