Wie eine Ulmer Firma jungen Indern eine Chance gibt

Das Maschinenbau-Unternehmen ZwickRoell und Don Bosco Mondo bilden in einem Slum in Indien junge Menschen aus. Zum Beispiel Naveen, 27 Jahre alt.

Naveen ist in einem Slum in Indien aufgewachsen. Er wurde im Jahr 1992 geboren, sein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Naveen ist ein ambitionierter junger Mann, der sich in seinem Beruf sehr gut auskennt, der fachlich hervorragend ist. Und er ist jemand, der sehr gut mit Menschen umgehen kann. Da sind sich viele, die ihn kennen, einig. Naveen arbeitet heute als Fachmann für Prüfmaschinen, wie sie zum Beispiel vom TÜV eingesetzt werden, um Materialien und Produkte auf ihre Qualität zu testen.

Er hat es so weit geschafft, dass er selbst andere junge Leute ausbilden kann – für den Jungen aus dem Slum im indischen Chennai ein erstaunlicher Karriereweg, der kaum möglich gewesen wäre, wenn nicht in Deutschland der Orden der Salesianer Don Boscos und der Ulmer Prüfmaschinen-Hersteller ZwickRoell an einem Entwicklungshilfeprojekt arbeiten würden. Dieses zeigt, wie moderne Entwicklungszusammenarbeit funktionieren kann. Lange Jahre lautete der Vorwurf, dass zwar viel Geld in Projekte in den Schwellen- und Entwicklungsländern fließe, die Erfolge aber ausblieben. Es kann auch anders gehen.

Don Bosco engagiert sich in 130 Ländern

Die rund 16.000 Salesianer Don Boscos sind in mehr als 130 Ländern aktiv. Der Orden engagiert sich in der Entwicklungshilfe, vor allem für die Ausbildung junger Menschen. Nur wer gut ausgebildet ist, so die Philosophie, kann auf eigenen Beinen stehen und Geld verdienen.

"Don Bosco widmet sich den Ärmsten der Armen, auch Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder psychisch beeinträchtigt sind", sagt Kathrin Drews, Referentin der zum Orden gehörenden Nichtregierungsorganisation Don Bosco Mondo in Bonn.

Das Ziel: Ihnen eine Ausbildung zu vermitteln. Pate steht dabei auch das deutsche System der dualen Ausbildung. Die Kombination aus Praxis im Betrieb und Theorie in der Berufsschule gilt weltweit als Erfolgsmodell.

Nach eigenen Angaben absolvieren heute weltweit 225.000 junge Menschen in 830 Don Bosco-Berufsbildungszentren eine Ausbildung. "Wir sind eine katholische Einrichtung, das Programm ist aber offen für junge Leute egal welcher Religion, Herkunft und welchen Geschlechts", berichtet Drews.

Unternehmen wie ZwickRoell als Partner mit an Bord

Das Besondere: Mit an Bord sind Unternehmen als Partner – so wie ZwickRoell. Das Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Einsingen bei Ulm. Hergestellt werden dort Prüfmaschinen, die beispielsweise Verpackungen oder Teile von Autos oder Flugzeugen Belastungen aussetzen und diese auf ihre Qualität testen. Das Unternehmen hat über 1.600 Mitarbeiter und ist in 56 Ländern vertreten. Indien gilt als großer Wachstumsmarkt für die Qualitätsspezialisten aus Schwaben, die auch in dem Land vertreten sind.

Vor drei Jahren, im Jahr 2016, starteten Don Bosco und ZwickRoell ihr Ausbildungsprojekt in Indien. "Unser Anliegen war, in einem Land zu helfen, wo viel Armut herrscht und es ein großes Potenzial gibt, junge Leute auszubilden", berichtet Karolin Fröscher von ZwickRoell. In Indien gebe es zwar ein großes Wachstum in der Industrie, es fehle aber an Ausbildungsmöglichkeiten. Armut, Kastenzugehörigkeiten oder selbst der Wohnort behindern die Bildungschancen. "Gerade in Slum-Vierteln ist Bildung notwendig", sagt Drews. Sonst ist es kaum möglich, dem Slum zu entkommen. Gerade Halbwaisen haben schlechte Chancen. Statt Zeit in ihre Ausbildung zu stecken, müssen sie Geld verdienen.

Naveen ging es auch so: "Als Halbwaise muss ich meine Mutter mitversorgen", sagt er. "Die Ausbildung bei der ZwickRoell-Akademie bei Don Bosco hat mir ganz neue Chancen gegeben", betont er. Ausgebildet werden die jungen Menschen von Don-Bosco-Trainern und dem Team von ZwickRoell zum Prüfmaschinen-Bediener. Sie lernen in einem Jahr, mit den Geräten umzugehen. Die indischen Azubis sollen einen Schulabschluss haben und zahlen für ihre Ausbildung rund 500 Euro im Jahr. "Wir haben die Erfahrung gemacht: Was nichts kostet, wird auch nicht wertgeschätzt", berichtet Drews. Schließen sie erfolgreich ab, erhalten sie das Geld zurück. Schülern, welche die 500 Euro nicht aufbringen können, greift man unter die Arme.

Die Kurse finden auf Englisch statt. Rund sechs bis zwölf junge Frauen und Männer zwischen 16 und 23 Jahren werden pro Jahr ausgebildet. Die Akademie ist auf dem Gelände einer größeren Bildungseinrichtung angesiedelt – dem Don Bosco Tech Campus von Chennai, wo hunderte weitere junge Leute lernen. Der Campus verfügt über eine staatliche Berufsschule, eine Hochschule, Freizeiteinrichtungen für die Jugendlichen aus dem Slum und eine Kirche. Er ist praktisch ein Lernort, Spiel- und Begegnungsstätte. Regelmäßig fahren auch Mitarbeiter von ZwickRoell nach Indien, um zu unterrichten.

Mitarbeiter aus Ulm bilden in Chennai aus

Mathias Rist, 44, ist normalerweise Vertriebsingenieur in Ulm. Im Herbst 2018 flog er für vier Wochen nach Chennai. "Die Jugendlichen aus dem Slum sind hochmotiviert", erinnert sich Rist. "Sie wissen, dass es für sie die Chance ihres Lebens ist."

In Indien verbrachte er praktisch den ganzen Tag auf dem Campus. Vor Unterrichtsbeginn treffen die Schüler ein und bereiten die Maschinen für den Unterricht vor. Sind alle da, stellen sich Schüler und Lehrer zusammen, beten, singen ein Lied. "Das motiviert für den Tag", sagt Rist. Von 9 bis 16 Uhr findet der Unterricht statt.

Die Basisausbildung: Welche Maschinentypen gibt es? Wie bedient man sie? Welches Material lässt sich wie auf seine Eigenschaften prüfen? Auch ihr Englisch verbessern die Schüler. Häufig geht es auch darum, den Schülern Sinn zu vermitteln, sagt Rist: "Wir wollen den jungen Menschen zeigen, wie ihr Weg aussehen kann, welche Chancen es gibt, was für sie möglich ist."

Der Campus liegt mitten im Slum von Chennai. In der Nachbarschaft stehen flache, aber gemauerte Gebäude. Je weiter man in den Slum eindringt, desto häufiger sieht man Wellblech, erinnert sich Rist. Es sind einfache Gebäude: Ein Raum, in dem die Familie wohnt, isst, schläft. Die Menschen verkaufen an Ständen Blumen oder Bananen. Als der Deutsche an einem Tag den Campus verließ, wurde er erst misstrauisch beäugt. Dann stellte er sich bei den Nachbarn vor, kam ins Gespräch. Das sprach sich herum. "Am nächsten Tag kannten mich alle, das Misstrauen war schnell weg", sagt er.

Eine der größten Herausforderungen für Entwicklungsprogramme wie das von Don Bosco Mondo und ZwickRoell ist es, auf die Kultur des anderen Landes einzugehen, berichten die Projektteilnehmer. Was gut gemeint ist, kommt nicht sofort gut an. Auch in die jungen Inder mussten sich die Ausbilder aus Deutschland erst hineinversetzen, hat Rist festgestellt. Nicht der Beruf steht bei den jungen Indern an erster Stelle – sondern die Familie. "Ihr oberstes Ziel ist es, eine Familie zu gründen."

Am Freitagnachmittag ist mit dem Unterricht früher Schluss. Ab 15 Uhr wird dann zusammen Tischtennis oder Cricket gespielt. Jede Menge Fragen stürmten anfangs auf Rist ein: Hast Du Familie? Kinder? Als er den jungen Leuten Bilder seiner Familie gezeigt hat, waren diese plötzlich aufgeschlossener. "Plötzlich war alles viel offener, das Vertrauen größer", erinnert er sich.

Naveen lernte der Mann aus Deutschland besonders schätzen. Der junge Inder ist mit der Kultur seines Landes vertraut. Er weiß, wie man auf die Auszubildenden eingehen muss. "Ich habe viel von ihm gelernt", sagt Mathias Rist. Denkt er an seine Zeit im Slum zurück, bleibt Rist vor allem eines in Erinnerung: "Wenn man mit den Jugendlichen dort lebt, isst, Sport treibt und sieht, wo sie groß werden, dann öffnet es einem die Augen, wie gut es uns zu Hause geht", sagt er.

Unternehmenskooperation: Ein Weg zu einer besseren Entwicklungszusammenarbeit

Das Unternehmen ZwickRoell will das Projekt auf jeden Fall fortsetzen: "Es ist uns wichtig, unseren Gewinn zu teilen und einen Teil den Leuten zurückzugeben, denen es nicht so gut geht", sagt Karolin Fröscher.

Und für Don Bosco zeigt das Projekt, wohin sich die Entwicklungshilfe in Zukunft bewegen muss.

Bisher sieht diese häufig so aus, dass eine Brücke, ein Kraftwerk, eine Schule gebaut wird. Dann ist das Projekt abgeschlossen. "Der Nutzen einer Unternehmenskooperation ist viel größer als wenn man irgendwo ein Haus hinstellt und dann geht", sagt Kathrin Drews. "Häufig wollen Unternehmen wie ZwickRoell etwas geben. Wir sagen: Warum gebt ihr nicht und bekommt auch noch etwas dafür?" Gut ausgebildete Arbeitnehmer zum Beispiel. "Das ist die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit", sagt sie.

Naveen ist der Beweis dafür.


Quelle: Augsburger Allegmeine, augsburger-allgemeine.de, 27.06.2019