Asiens Talentpool trocknet aus. Das rapide Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern erfordert immer mehr Fachkräfte. In wenigen Jahren könnte sich das Lohnniveau für Hochqualifizierte in der Region dem der Industriestaaten anpassen. Multinationale Firmen äußern ein verstärktes Rekrutierungsproblem.
Die Schwellenländer Asiens stehen vor einem wachsenden Fachkräftemangel. Dies könnte dazu führen, dass bereits in wenigen Jahren die Unternehmen in der Region für gut ausgebildete Wissenschaftler, IT-Spezialisten und Ingenieure Löhne wie in Westeuropa oder Nordamerika zahlen müssen.
Noch scheint die Knappheit an qualifizierten Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt die Dynamik der aufstrebenden Wirtschaften in Asien nicht zu bremsen. So erhöhte sich der Zufluss der realisierten Auslandsinvestitionen in der Volksrepublik China im 1. Halbjahr 2008 um 46 Prozent gegenüber der Vorjahresperiode.
Doch Wirtschaftswissenschaftler sehen bereits eine Fachkräftekrise in Asien heraufziehen, die das Wachstum der Region bremsen könnte. Auch Unternehmen äußern verstärkt ihre Besorgnis über das Rekrutierungsproblem.
Mitte 2008 werteten 44 Prozent der beobachteten chinesischen Unternehmen dem Beratungsunternehmen McKinsey gegenüber das Talentdefizit als größte Barriere für ihre globalen Ambitionen.
Auch 600 Führungskräfte von in Asien tätigen multinationalen Firmen zählten 2007 in einer Umfrage des Beratungsunternehmens Economist Intelligence Unit (EIU) den Mangel an qualifiziertem Personal zur größten Sorge für ihre Geschäftstätigkeit in China, noch vor dem Thema ineffiziente Bürokratie.
An dritter Stelle folgte bereits die Furcht vor Fluktuation der eigenen Mitarbeiter. Auf Rang fünf - direkt nach dem Punkt "Rechtsunsicherheit" - sorgen sich die Manager über den galoppierenden Anstieg der Löhne.
Nach einer Studie des Beratungsunternehmens ECA International werden 2008 die Gehälter in Asien durchschnittlich um nominal 7,3 Prozent steigen. Die 250 befragten Unternehmen erwarten den größten Zuwachs in Indien mit 14 Prozent gefolgt von Indonesien mit 11,3 Prozent.
Allerdings dürfte die Lohnentwicklung noch mal an Fahrt gewinnen. So meldet das chinesische National Bureau of Statistics, dass sich landesweit die Löhne städtischer Arbeiter im 1. Halbjahr 2008 um durchschnittlich 18,0 Prozent erhöht haben. Im August 2008 legte der Durchschnittslohn in Russland laut Statistikamt um 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat zu.
Dennoch bleibt der Lohnabstand der Schwellenländer Asiens zu den Industrienationen bei niedrig qualifizierten Arbeitskräften sehr groß. Eng wird es hingegen bei Fachkräften. Der Geschäftsführer eines der größten weltweiten Personalberatungsunternehmens, Manpower, sagte Anfang 2008 in der Financial Times, Firmen würden hochqualifizierten Mitarbeitern in Asien bald das gleiche bezahlen müssen, was ihre westlichen Kollegen erhielten.
In der Tat wird die Region zunehmend Opfer ihres eigenen Erfolges. Das rapide Wirtschaftswachstum hat den Talentpool ziemlich leer gefischt. Engpässe bestehen vor allem auf der Expertenebene. Dringend benötigt werden unter anderem Ingenieure, Juristen, Wirtschafts- und Naturwissenschaftler.
Besonders gefragt sind zudem Basisfunktionen, wie sie jede Unternehmensgründung abdecken muss, also etwa im Personal- oder im Rechnungswesen. Auch fehlt es an fähigem Verkaufs- und Marketingpersonal.
Die Asian Development Bank (ADB) spricht bereits von einer Fachkräftekrise und sieht darin ein Risiko für das Wirtschaftswachstum in Asien. Die Auswirkungen bekommen die Unternehmen immer mehr zu spüren: Produktivitätsverluste, steigende Lohnkosten, hohe Fluktuationsrate und höhere Kosten für die Personalgewinnung und -ausbildung.
Der deutsche Spielzeughersteller Magarete Steiff GmbH zog sogar kürzlich seine Produktion aus China komplett zurück. Als Hauptgrund gab das Unternehmen Qualitätsprobleme und die hohe Wechselrate der Belegschaft an, die zuvor in monatelangem Training die kunstvolle Fertigungstechnik erlernt hatte.
Die Fluktuationsrate kann in einigen Gegenden Asiens rund ein Drittel erreichen. So seien in der südchinesischen Provinz Guangdong 2008 laut Medienberichten bis zu 30 Prozent der Arbeiter nicht aus den Neujahresferien in ihre bisherige Fabrik zurückgekehrt.
Anspruchsvollere Fertigung und Aufstieg asiatischer Konzerne
Das Talentdefizit nimmt mit dem Entwicklungsgrad der Ökonomien in den Schwellenländern ständig zu. Großunternehmen zum Beispiel müssen zunehmend internationale Rechnungslegungsstandards erfüllen, wollen sie ihr weltweites Wachstum und das Engagement ausländischer Investoren sichern.
Auch die ehrgeizigen Pläne der chinesischen Regierung, zunehmend die Entwicklung und Fertigung technologisch anspruchsvoller Güter in der Volksrepublik zu realisieren, strapaziert den Talentpool zusätzlich. Dafür steht zum Beispiel die Tatsache, dass Flugzeughersteller Airbus sein erstes Werk außerhalb Europas Ende September 2008 in der Volksrepublik China einweihte.
In Indien kämpft die weltweit äußerst erfolgreiche IT-Dienstleistungsbranche mit Nachwuchsproblemen. Der indische Branchenverband NASSCOM sieht auf seine Unternehmen eine Lücke von 500.000 Arbeitskräften bis 2010 zukommen. Selbst ein Softwareingenieur mit wenig Berufserfahrung könne bereits 45.000 US-Dollar verdienen.
Der Anstieg der Einkommen in der Region führte zudem zu einer Nachfrage nach bisher wenig verbreiteten Gütern und Dienstleistungen. Konsumenten fragen zum Beispiel Finanz- oder Rechtsberatung nach, auch nimmt der Anspruch an die medizinische Versorgung bei der neuen Mittelschicht zu.
Asien leidet unter Abwanderung von Talenten
Verstärkt wurde die Knappheit an Spezialisten durch einen immer schärfer werdenden internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe, angeheizt durch den technischen Fortschritt und eine ständige Reduzierung der Migrationsbarrieren. Der "brain drain" kommt hauptsächlich den Industriestaaten zu Gute.
Von einer Millionen Chinesen, die zwischen 1978 und 2006 zum Studium ins Ausland gingen, kehrten rund 70 Prozent nach Angaben der Chinese Academy of Social Sciences nicht zurück.
Bildungssysteme der Schwellenländer größtes Hindernis
Den enorm gestiegenen Bedarf an bestimmten Berufsgruppen können die Bildungssysteme der Schwellenländer bisher kaum befriedigen. Die Universitäten der Region produzieren zwar eine hohe Quantität an Absolventen, doch die Qualität und Ausrichtung der Ausbildung genügt oft genug nicht den Anforderungen der sich rasant entwickelnden Wirtschaft.
Allein 2007 verließen nach Angaben des Personaldienstleisters Mycos 4,95 Millionen Absolventen die chinesischen Hochschulen (0,82 Millionen mehr als 2006). Doch nur etwas weniger als 10 Prozent der Job-Kandidaten in China seien fähig, in multinationalen Unternehmen zu arbeiten, schätzt das Beratungsunternehmen McKinsey. Dazu zählten Ingenieure, Wirtschaftswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Mediziner und Krankenschwestern.
Im Ergebnis hätten in China 2003 nur rund 160.000 Jung-Ingenieure bereitgestanden, die für die Arbeit in multinationalen Konzernen befähigt waren - nicht mehr als im Vereinigten Königreich, stellte McKinsey fest. In Indien erfüllten immerhin 25 Prozent der Ingenieurs-Absolventen diese Anforderungen. Bei den restlichen Absolventen liege der Anteil zwischen 10 und 15 Prozent.
Selbst wirtschaftlich weiter entwickelte Länder wie Malaysia oder Thailand leiden unter dem Fachkräftemangel. Autoren der Weltbank bemerken, dass Malaysia mit seiner relativ kleinen Bevölkerung und einer dazu vergleichsweise großen Wirtschaft es nicht schafft, genügend Hochschulabsolventen zu generieren. Die Rate der weiterführenden Schulabschlüsse sei niedriger als in Ökonomien mit vergleichbarem Einkommensniveau.
In Thailand liege zwar die Anzahl der Absolventen sogar über der Norm, aber die Qualität für die Bedürfnisse der Wirtschaft sei nicht ausreichend, berichtete die Weltbank 2007. Die Umsätze der thailändischen Unternehmen könnten ohne Fachkräftemangel um 15 Prozent höher liegen.
Ein Beispiel, wie der Fachkräftemangel zu beheben ist, gibt Singapur. Der Stadtstaat hat seine rapide exportorientierte Industrialisierung durch einen für Ausländer extrem offenen Arbeitsmarkt gemeistert. Dabei ging die Regierung aber sehr selektiv vor und bevorzugte klar die Arbeitskräfte, die Qualifikationen entsprechend dem Bedarf der Wirtschaft mitbrachten.
Die ADB schließlich sieht ein großes Potenzial in den Millionen asiatischer Studenten im Ausland, die es für die Region zurück zugewinnen gelte. Der größte Hebel allerdings, um das Angebot an qualifizierten Kräften substanziell zu erhöhen, liege in Reform und Ausbau der Bildungssysteme in den asiatischen Schwellenländern.
Den Unternehmen bleibt bis dahin nur, ihre Rekrutierungsinstrumente aufzurüsten und zu verfeinern. Neben den unvermeidlichen höheren Gehältern, dem Einsatz von Provisionen oder Boni spielen andere Lohnzusatzleistungen oder Werte für die Mitarbeiter eine wichtige Rolle: Eine Extra-Krankenversicherung, Mietzuschüsse, Kinderbetreuung oder Reisen an den Heimatort zielen auf die Bedürfnisse der Familie.
Weitere, weniger offensichtliche Wege beim Personal zu punkten: Für Asiaten etwa ist es besonders attraktiv für eine prestigeträchtige Marke zu arbeiten. Die Imagepflege der Firma - auch vor Ort - stiftet also einen Zusatznutzen. Auch neueste Diensthandys oder Laptops heben das Ansehen ihrer Träger in der Gesellschaft. Eine gute Kantine schließlich rundet das Wohlfühlprogramm ab.
Als wichtigster Anreiz gilt jedoch die Entwicklungsmöglichkeit und Förderung des Mitarbeiters. Innerbetriebliche und außerbetriebliche Weiterbildung sowie der Einsatz von Mentoren und Personalentwicklungsplänen erzielten bei der Gewinnung und Bindung der Talente laut EIU-Umfrage die größten Erfolge.
Die inflationäre Vergabe von Titeln oder die zu frühe Erweiterung der Verantwortung hingegen, gilt in der Praxis oft als das letzte Mittel, um die Mitarbeiter zu halten. Einige Unternehmen versuchen die Auswirkung der Fluktuation durch den Einsatz von sogenannten Bumerang-Programmen zu begrenzen. Sie halten den Kontakt zu den Job-Hoppern und fördern die Rückkehr.
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von Christian Overhoff