Berufsbildung im Westjordanland: Selbstständig statt arbeitslos

Im Westjordanland, wo es kaum Jobs gibt, helfen Berufsschulen dabei, dass junge Erwachsene auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben.

Wafa Mohammed Ziada aus dem Dorf Bilîn, einige Kilometer westlich von Ramallah, kommt heute als Gast zurück in ihre ehemalige Berufsschule.

Sie lächelt zufrieden, aber auch ein wenig schüchtern. Ihre Lehrer am Palästinensischen Technischen College für Mädchen in Ramallah begrüßen sie herzlich. Wafa ist inzwischen Unternehmerin. Als Hochzeitsfilmerin und Fotografin hat sie sich noch während der Schulzeit selbstständig gemacht. Sie ist 22 Jahre alt, verheira­tet und hat eine kleine Tochter. Im Sommer 2016 hat sie hier ihren Abschluss gemacht. Für die Lehrer ist Wafas Erfolg eine Bestätigung, dass ihr Konzept aufgeht: Während der Hochzeits- und Verlobungssaison zwischen März und dem Beginn des Ramadan ist Wafa an jedem Wochenende ausgebucht.

Ausbildung an Nachfrage ausrichten

In einem Laden neben dem Friseursalon ihres Mannes hat sie ihr Fotostudio eingerichtet. Die Geschäfte der beiden ergänzen sich ideal, sie können ihre junge Familie ohne Hilfe der Eltern ernähren. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn die Arbeitslosigkeit von jungen Erwachsenen liegt im Westjor­danland nach Angaben des Palästinensischen Zentralbüros für Statistik bei etwa 40 Prozent.

Die Jugendlichen in den Palästinensischen Gebieten drängen an die Universitäten, wie fast überall – doch gibt es später kaum Jobs für Akademiker. Denn es fehlen große Unternehmen. Maurer, Schreiner, Anstreicher, Automechaniker und Klempner hingegen sind gesucht. Hier setzt die GIZ an. Sie unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Schulen, das Arbeits- und das Bildungsministerium sowie die Handwerkskammern dabei, die berufliche Bildung besser auf die Bedürfnisse des Marktes auszurichten.

Gute Erfolge erzielen die Schulen, wenn sie die Jugendlichen so ausbilden, dass diese sich mit einer eigenen Firma selbstständig machen können. Auch die Europäische Union unterstützt das Programm finanziell, um seine Wirkung zu verstärken. Es wird erwartet, dass die Hälfte der insgesamt 6.500 Teilnehmer sechs Monate nach Ende der Berufsausbildung eine Stelle im erlernten Beruf gefunden hat. Rund 500 der jungen Leute gründen voraussichtlich eine eigene Firma.

Für Frauen ist es noch schwieriger als für Männer, Arbeit zu finden. Das Technische College für Mädchen in Ramallah, gegründet 1952, bietet unter anderem die Fächer Buchführung, technisches Zeichnen, Architektur, Nähen und Modedesign an.

"Männerberufe" stehen Frauen in der palästinensischen Gesellschaft kaum offen. Demnächst wird die Berufsschule in Jenin im Norden des Westjor­danlandes auch eine Anstreicherklasse für Mädchen einrichten – eine kleine Revolution. Doch dahinter steckt eine erfolgversprechende Idee: Denn männliche Handwerker dürfen in den Palästinensischen Gebieten die Privaträume einer Familie nur betreten, wenn auch der Hausherr da ist. Anstreicherinnen hingegen können auch dann arbeiten, wenn nur Frau und Kinder daheim sind – eine Marktlücke.

Der erste Jahrgang: Alle haben einen Job gefunden

Eine ähnliche Chance nutzt auch Wafa. Palästinensische Hochzeiten sind riesige Feste, die bis zu drei Tage dauern. Oft sind mehrere Hundert Gäste eingeladen, manchmal das ganze Dorf und eine große Verwandtschaft. Meistens feiern Männer und Frauen in getrennten Räumen. Den Raum der Frauen dürfen die Männer nicht betreten – auch kein Fotograf.

Hier beginnt Wafas Erfolgsgeschichte: Sie kann in den Hochzeitsvideos, die mindestens zwei Stunden lang sind, auch die Seite der Braut und der weiblichen Gäste dokumentieren. Die Videos haben eine große Bedeutung, denn das Fest, für das manche Familie ein Vermögen ausgibt, soll in aller Pracht und aus allen denkbaren Perspektiven festgehalten werden.

Im Jahr 2014 hat die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein modernes Film- und Tonstudio am Palästinensischen Technischen College für Mädchen eingerichtet. Auftraggeber war neben dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit.

Bis zu 24 junge Frauen werden hier zwei Jahre lang ausgebildet. In einem abgedunkelten Raum mit riesigen Scheinwerfern unter der Decke stehen mehrere Studentinnen um vier Kameras herum. Sie debattieren, wer gleich den Sprechertext vortragen wird, wer sich wohin stellen soll, welche Kameraeinstellungen sie benötigen. Auch Wafa hat hier ihr Handwerk gelernt. Natürlich hoffen die Verantwortlichen der Schule, dass aus den Absolventinnen eines Tages berühmte Fernsehjournalistinnen werden, die als Reporterinnen zum Beispiel bei Al Jazeera auf die Lage der Palästinenser aufmerksam machen.

Fürs Erste ist es schon ein Erfolg, dass der gesamte erste Jahrgang, zu dem auch Wafa gehörte, Arbeit gefunden hat – entweder bei Fernsehproduktionsfirmen oder eben als Hochzeitsfilmerin. Doch so schnell wie Wafa war keine andere. Sie begann noch während ihrer Ausbildung, eine eigene kleine Firma zu gründen. Schon beim Abitur wusste sie genau, was sie auf keinen Fall machen wollte: jahrelang zur Universität gehen, ohne zu wissen, ob sie danach einen Job findet. Lieber wollte sie schnell anfangen zu arbeiten, um finanziell selbstständig zu sein und ihre Familie zu unterstützen. Diesen Traum hat sie sich erfüllt.

Schon während der Schulzeit Kontakte zu Firmen knüpfen

Die jungen Männer an der Berufsschule in Jenin sind davon noch ein Stück weiter entfernt. 15 von ihnen stehen in der Schreinerwerkstatt und schleifen Holzfenster.

Ameer Abu-Wafa, 18 Jahre alt, möchte sich als Tischler in seinem Dorf selbstständig machen. Sein Vater ist Tagelöhner in Israel, weil er dort mehr verdient als in den Palästinensischen Gebieten. Doch arbeitet er ohne festen Vertrag und ohne jede Versicherung. Das ist die übliche Form der Beschäftigung hier. Viele Väter verdingen sich in den Steinbrüchen der Umgebung, in denen die typischen Kalksteine für die Häuser – sowohl der Israelis als auch der Palästinenser – geschlagen werden. Andere arbeiten auf den Feldern. Harte, schlecht bezahlte Arbeit, die auch noch saisonabhängig ist.

Noch unterstützen Ameers Eltern ihren Sohn mit Geld, doch das soll sich bald ändern. Schon während der Schulzeit, so will es das Konzept der Schule, knüpft er Kontakte zu Tischlereien. Dort soll er möglichst schnell nach dem Examen eine Stelle finden.

Ein duales System wie in Deutschland, wo betriebliche und schulische Berufsausbildung parallel laufen, gibt es im Westjordanland nicht. Doch die stärkere Praxisorientierung ist ein wichtiges Ziel des Programms.

Die Berufsschulen sind plötzlich begehrt

Bisher gibt es zehn staatliche und etwa 50 private Berufsschulen im Westjordanland. Hinzu kommen sechs sogenannte Kompetenzzentren, die die GIZ mit aufgebaut hat. Dazu gehören zum Beispiel auch die Schule in Jenin und das Palästinensische Technische College für Mädchen in Ramallah. Diese Zentren bilden Lehrer anderer Schulen fort, sind sehr gut ausgestattet und haben den Auftrag, durch die Kooperation mit Unternehmen die Berufsbildung insgesamt zu modernisieren.

Im Raum neben der Schreinerwerkstatt schrauben angehende Automechaniker an einem weißen Golf. Sie lernen, die Lichtmaschine zu reparieren. Im Blaumann, mit gestylten Haaren und ölverschmierten Händen sind die jungen Männer bei der Arbeit. Klar, sie wollen später einmal ihre eigene Autowerkstatt eröffnen. "Und einen BMW kaufen", sagt einer von ihnen kess. Der andere lächelt schief, weil er das vielleicht doch etwas gewagt findet: "Ich einen Golf." Dass das gelingt, ist gar nicht unwahrscheinlich. In der Straße neben der Berufsschule reiht sich Werkstatt an Werkstatt, und in allen werden gerade Autos repariert.

Sandos Abubaker, die Direktorin der Schule in Jenin, kann sich jedenfalls vor Bewerbungen nicht retten. Obwohl die berufliche Bildung im Westjordanland ursprünglich kein hohes Ansehen hatte, sind die Berufsschulen heute begehrt.

Die Schulleiterin, eine zupackende Frau um die 50, bekommt mehr als 1.000 Bewerbungen für 246 Plätze. Sie wählt ihre Schüler anhand von Zeugnisnoten, Eingangsprüfungen und Interviews aus. Schüler aus Flüchtlingscamps und Dörfern der sogenannten C-Gebiete, die unter israelischer Verwaltung stehen, kommen dabei ebenfalls zum Zuge. "Wir nehmen nur die Besten", betont die Direktorin. So ist es inzwischen eine Auszeichnung, an einer Berufsschule zu lernen.

Gestern Auszubildender, heute respektierter Chef

Sami Alawneh wusste das zu schätzen, und er hat seine Chance genutzt. Er ist 27 Jahre alt und selbstständiger Anstreicher, Trockenbauer und Stuckateur.

Erst ein Jahr zuvor schloss er die Berufsschule ab. Heute beschäftigt er je nach Auftragslage zwei bis sieben Mitarbeiter. Die meisten kommen, wie er, direkt von der Berufsschule. Gerade gestalten sie auf einer Baustelle in einem neuen Büro- und Geschäftshaus in Jenin die Wände und Decken einer künftigen Arztpraxis. Eingelassene Lichtstrahler, verschiedene Pastelltöne – alles geschmackvoll und blitzsauber.

Sami hat auch vor der Berufsschule schon auf Baustellen gearbeitet, so kennt er sich in verschiedenen Gewerken aus. Heute ist er ein respektierter Chef – und Vater eines kleinen Sohnes. Für die jüngeren Schüler ist er ein Vorbild. Auch seine Lehrer sind stolz auf ihn. Und keine Frage – auch Sami selbst freut sich über seinen Erfolg.

akzente

Diesen und weitere Artikel, auch zur beruflichen Bildung, finden Sie auf der Internetseite akzente - Das Magazin der GIZ


Quelle: akzente – Das Magazin der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit), akzente.giz.de, Ausgabe 2/2017