Duales Bildungssystem – Viele Länder wollen es haben

Viele Länder wollen es haben – das duale Bildungssystem. Doch es ist nicht so einfach, dieses System zu etablieren. Hürden gibt es viele, strukturelle wie psychologische. Das zeigen die Berichte der Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) aus Brasilien, Südafrika, Singapur und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA).

Berufsbildung in Brasilien - Land der Defizite

In Brasilien fehlen qualifizierte Arbeitskräfte. Fortschritte in der Berufsausbildung lösen das Problem nur zum Teil.

Ein Handwerker ist schnell gefunden in São Paulo, wenn zum Beispiel das Dach rinnt in der Regenzeit. Die Nachbarin kennt einen, der im Nu nicht nur die lecke Stelle abdichtet, sondern auch gleich die von der Feuchtigkeit befallenen Wände streicht. Wo er das alles gelernt hat? Bei seinem Onkel. Eine Woche nach dem Service verraten Wasserflecken an der Wand, dass diese Ausbildung wohl nicht die beste war.

Qualifizierte Arbeitskräfte zu finden, ist schwierig in Brasilien. Als das Land vor einigen Jahren eine wirtschaftliche Blüte erlebte, fehlten Fachleute an allen Ecken und Enden. Unternehmen rissen sich um die wenigen IT-Spezialisten oder Ingenieure. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Eine Studie der Manpower-Gruppe zeigt, dass der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Brasilien doppelt so gross ist wie im internationalen Durchschnitt.

 

Ansätze eines dualen Systems

 

Das Problem existiert seit der Industrialisierung Brasiliens, die ab den 1930er Jahren einsetzte. In dieser Zeit waren es die Industrie und das Gewerbe, welche die Initiative ergriffen, um ihren Bedarf an Fachkräften zu decken.

Es entstanden nationale Ausbildungszentren im Bereich der Industrie (Senai) und des Gewerbes (Senac), die von der Privatwirtschaft finanziert werden und bis heute eine zentrale Rolle in der Berufsbildung in praktisch allen Branchen auf allen Stufen spielen. Die Zentren des Gewerbes, die 1947 mit einem Kurs für Bürogehilfen begannen, bieten heute mehr als 1.200 Lehrgänge und Kurse an. Ein Grossteil davon ist gratis.

Laut Ana Kuller, Koordinatorin für Bildung des Senac in São Paulo, richten sich die Kurse an den Bedürfnissen der Unternehmen aus. Doch die Berührungspunkte zwischen der Ausbildung und dem brasilianischen Arbeitsmarkt sind klein. Erfahrung holen sich die Studenten in der Regel in schuleigenen Labors und nicht in einem realen Unternehmen.

Ein Programm, das am ehesten mit einer Schweizer Berufslehre zu vergleichen ist, nennt sich Jovem Aprendiz: Ein Gesetz verpflichtet Firmen dazu, fünf Prozent der Stellen jungen Auszubildenden im Alter zwischen 14 und 24 Jahren zur Verfügung zu stellen. Diese arbeiten Teilzeit im Betrieb und gehen gleichzeitig zur Schule. Diese "Lehre" ist jedoch vergleichsweise kurz und deshalb sehr rudimentär.

 

Soziale Ursachen

 

Brasilien habe ein junges Berufsbildungssystem, das noch im Aufbau sei, sagt Kuller. Die Defizite seien gross. Das eigentliche Problem des Landes ist jedoch ein soziales: Vielen jungen Brasilianern ist es aus ökonomischen Gründen nicht möglich, auf Bildung oder gar Weiterbildung zu setzen. Oftmals suchen sie sich bereits nach der obligatorischen Schulzeit einen Job, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Oft landen sie in der Schwarzarbeit.

Die Regierung hat in den vergangenen Jahren Anstrengungen unternommen, um mehr Schülern den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. Es gibt Stipendienprogramme; Quoten sorgen dafür, dass ein bestimmter Anteil von Universitätsstudenten und Absolventen technischer Schulen aus armen Verhältnissen stammt.

Diese Bemühungen schliessen jedoch nur einen Teil der Kluft, die sich bereits im Grundschulalter auftut. Schüler aus öffentlichen Schulen weisen im Vergleich zu Absolventen von Privatschulen Defizite auf, die im weiteren Verlauf der Ausbildung nur schwer wettgemacht werden können.

Will Brasilien sein immenses Potenzial an Arbeitskräften und Talenten ausschöpfen, muss es den Hebel weiter unten ansetzen und die öffentlichen Grundschulen aufwerten.

Duale Ausbildung in Singapur -Theorie soll nicht alles sein

Lange setzte Singapur bei der Ausbildung auf theorielastige Akademisierung. Das rächt sich nun mit Fachkräftemangel. Nun forciert man ein duales System, doch dessen Erfolg ist keineswegs garantiert.

Rohde & Schwarz, Festo, Sick oder Pepperl + Fuchs sind keine Firmennamen, die man auf Anhieb kennt. In Singapur schon gar nicht. Es handelt sich um deutsche Mittelstandsunternehmen, die hochspezialisierte Produkte entwickeln und diese "Business to Business" anbieten. Etwa ultragenaue Industriesensoren für die Funktechnik oder Automatisierungslösungen.

 

Pioniere für duale Ausbildung

 

Den vier Unternehmen kommt im Stadtstaat eine Pionierrolle zu. Als erste bieten sie hier ein duales Ausbildungssystem auf Universitätsebene an, das vom Singapore Economic Development Board (EDB) unterstützt wird.

Der neue Ansatz bringt Studenten der lokalen Fachhochschulen (Polytechniken) mit Firmen sowie mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg zusammen. Das Projekt heisst denn auch Poly-Goes-UAS (University of Applied Sciences) beziehungsweise Poly-Goes-SIT (Singapore Institute of Technology).

Die Initiative vereint einen Universitätsabschluss mit betrieblicher Erfahrung und eine Arbeitsstelle mit einem Auslandaufenthalt, der auch das Erlernen der deutschen Sprache umfasst.

Mit Poly-Goes-UAS und Poly-Goes-SIT betreiben Technologiefirmen wie Rohde & Schwarz Nachwuchsförderung; gleichzeitig spielen diese Projekte für Singapur eine Vorreiterrolle bei der Neuausrichtung des Berufsbildungssystems. Es soll praxisbezogener werden und das Image des Ingenieurs und Technikers zu verbessern helfen.

Bald dürften auch schweizerische Firmen, die in Singapur überdurchschnittlich präsent sind, mit von der Partie sein. Erste Schritte sind etwa bei Novartis und Nestlé eingeleitet worden.

Dass das bayrische Familienunternehmen Rohde & Schwarz, das in der drahtlosen Kommunikationstechnologie verankert ist, bei diesem Pilotprojekt derzeit an vorderster Front mitmacht, ist kein Zufall: Andy Goh, heute Produktionsdirektor der Firma in Singapur, war bis 2005 beim EDB unter anderem für Ausbildungsfragen tätig. Zudem ist die Firma auf Fachkräfte angewiesen, doch der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet.

Duale Ausbildungssysteme mögen in Deutschland oder der Schweiz selbstverständlich sein. Aber für Singapur ist es ein Experiment, dessen Erfolg keineswegs garantiert ist.

Während Jahrzehnten wurde hier eine theorielastige Akademisierung betrieben, die sich tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert hat. Nur wer einen Universitätsabschluss vorweisen konnte, hatte Karrierechancen, anständige Eintrittssaläre und gesellschaftliche Anerkennung.

Bis vor fünfzehn Jahren waren dafür die international angesehenen National University of Singapore und die Nanyang Technological University praktisch die einzigen erstrebenswerten Adressen. Dort studierten die Besten des Jahrgangs Medizin oder Naturwissenschaften, die Zweitbesten Sozialwissenschaften wie Ökonomie.

Wer den Sprung an die Uni nicht schaffte, wurde ins Institute of Technical Education verwiesen. Damit war und blieb man aber gewissermassen lebenslang stigmatisiert.

Eine zweite Chance, wie sie der zweite Bildungsweg verkörpert, gab es hierzulande lange nicht. Erst 2005 wurde dafür die SIM-Universität etabliert, die sich heute unter anderem auf Erwachsenenbildung konzentriert. Erst neueren Datums ist auch die Singapore University of Technology and Design.

Um im Kreis der Industrienationen mithalten zu können, braucht Singapur mehr Innovationen, mehr Unternehmer, Spezialisierungen und bessere Fertigungskünste. Die Schaffung eines dualen Ausbildungssystems gehört dabei zu den markantesten Initiativen.

Berufe in Südafrika - Schule der 800.000

Jeder zweite junge Südafrikaner ist arbeitslos. Die Regierung setzt auf Technikerschulen – mit Schweizer Hilfe.

Auf dem Regal hinter seinem Schreibtisch hat Peter Mudau drei Pokale aufgereiht. Der Campus-Manager des Johannesburger Ekurhuleni West TVET College blickt stolz auf die polierten Trophäen, die seine Jungs gegen Vertreter anderer südafrikanischer Berufsausbildungszentren gewonnen haben.

"Sie haben gekämpft wie die Löwen", sagt Mudau. "Mit dieser Einstellung werden sie es auch im Leben schaffen." Rund 800.000 junge Erwachsene in Südafrika besuchen solche Technical Vocational Education and Training (TVET) Colleges.

Die Regierung hat erkannt, dass es der nahezu stagnierenden Wirtschaft nicht nur an Hochschulabsolventen, sondern mehr noch an ausgebildeten Berufsleuten mangelt. An TVET-Colleges werden vor allem technisch orientierte Berufe wie Industrieelektroniker und Mechaniker gelehrt.

 

Chancen für fast alle

 

Die Herausforderung ist gewaltig. In Südafrika ist beinahe die Hälfte der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, und von den jungen Erwachsenen ist jeder zweite arbeitslos. Besonders dramatisch erscheint die Lage der vielen Schulabbrecher, von denen nur jeder dritte eine Arbeit findet – trotz Hunderttausenden von unbesetzten Stellen. Hinzu kommt, dass personalintensive Industrien wie der Bergbau zunehmend auf Automatisierung setzen und Arbeitsplätze abbauen.

Campus-Manager Mudau weiss um diese Probleme. 18 Millionen Südafrikaner brauchen eine Ausbildung, um auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben. Aber Mudau weigert sich, die Hoffnung für die 22.000 Studenten an seinem College aufzugeben.

Man versuche, jeden Bewerber aufzunehmen und an Firmen zu vermitteln, selbst wenn Kandidaten keinen Schulabschluss vorweisen könnten. 95 Prozent der Studenten machten ein Praktikum in einem Unternehmen, sagt Mudau. Die Mehrheit erhalte dann eine feste Stelle. Genaue Zahlen nennt er nicht.

Die College-Gebühren in Höhe von umgerechnet bis zu 3.700 Franken im Jahr werden von den Unternehmen und vom Staat getragen. Während der Praktika zahlen die Firmen den Auszubildenden zudem zwischen 2500 und 4500 Rand (154 bis 278 Franken).

"Das Geld für unsere Studenten ist knapp, zumal sie während der Studienwochen kein Gehalt bekommen", sagt Mudau. Auch Unterkünfte kann die Technikerschule keine stellen. Doch in Johannesburg gibt es viele Unternehmen, die auf TVET-Einrichtungen zurückgreifen. Eine Pflicht dazu besteht nicht. Schwieriger ist die Lage in strukturschwachen Regionen auf dem Land.

 

Zu wenige Lehrer

 

Die Hoffnungen der TVET-Colleges basieren auch auf einem Besuch des südafrikanischen Ministers für Hochschulbildung, Blade Nzimande, in der Schweiz. 2012 informierte er sich über das duale System der Berufsbildung. Die Swiss South African Cooperation Initiative unterstützt die Regierung in ihren Bemühungen.

Die Technikerschulen müssen mit ihren Lehrgängen den Erwartungen der Unternehmen noch mehr entgegenkommen. Hier, so ist zu hören, gibt es noch viel zu tun.

TVET-Colleges indes sind beliebt. Seit 2010 hat sich die Zahl der Absolventen verdoppelt. Bis 2030 sollen jährlich 1,25 Millionen Südafrikaner an solchen Schulen ausgebildet werden.

Doch geeignetes Personal ist rar. Das Gehalt der Lehrer beträgt umgerechnet rund 1.000 Franken monatlich. Benötigt werden Fachkräfte mit Berufserfahrung – im privaten Sektor verdienen diese oft deutlich mehr. Das Problem betrifft den gesamten öffentlichen Sektor. Dieser ist aufgrund seiner tiefen Gehälter nur selten interessant für die Bildungselite.

Lehrstellen in den USA - Eine Ausbildung im Gegenwind

Geringes Prestige und ein unwilliges Unternehmertum sorgen in den USA dafür, dass sich die Berufsbildung nicht etablieren kann.

Der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften ist in den Vereinigten Staaten groß. Laut offiziellen Statistiken waren im letzten Dezember landesweit nicht weniger als 5,6 Millionen Stellen zu besetzen. Vor diesem Hintergrund haben die USA seit geraumer Zeit damit begonnen, die Berufsbildung nach europäischem Modell zu fördern.

Im letzten Sommer unterzeichnete die Regierung ein einschlägiges Abkommen mit der Schweiz. Kurz zuvor hatten die USA eine ähnliche Partnerschaft mit Deutschland geschmiedet. Von der Erfahrung beider Länder im Bereich Berufsbildung will Amerika profitieren. Man hat großen Nachholbedarf.

 

Wenig Stellen

 

Eine Ausbildung, die Praxis und Theorie vereinbart, konnte in den USA bisher aber nicht richtig Fuß fassen, obwohl deren Vorteile offensichtlich sind. Im letzten Jahr absolvierten weniger als 0,5 Prozent aller Arbeitnehmer in Amerika eine Berufsausbildung.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Es sind nur wenige Unternehmen, die Lehrstellen schaffen oder ein vorhandenes Programm ausbauen. Das Angebot ist also klein, um über diesen Weg in die Berufswelt einzusteigen. Arbeitgeber sollen laut der jüngsten Studie des Center for American Progress mit Anreizen motiviert werden, Lehrplätze anzubieten.

Weitere Empfehlungen der Studie, die sich auf erfolgreiche Modelle in einzelnen Gliedstaaten stützt, sind die Schaffung von privat-öffentlichen Partnerschaften zur Entwicklung von neuen Lehrgängen sowie die Rekrutierung von Jugendlichen, um diese in Vorprogrammen auf die Berufsausbildung vorzubereiten. Eine wichtige Ursache, weshalb sich die Berufsbildung in den USA bis heute nicht bewähren konnte, ist der Stellenwert einer solchen Laufbahn.

Das weiß auch der frühere Gouverneur von Kentucky, Steve Beshear, der sich um die Einführung von Programmen in seinem Gliedstaat engagierte. Man denke noch immer, dass Arbeit in Handwerk oder Produktion nur für jene sei, die keine andere Wahl hätten. Der Eindruck, einzig eine akademische Ausbildung führe zum Erfolg, ist weit verbreitet. Das erschwert die Durchsetzung dieses Modells in den USA.

 

Wenig Prestige

 

Dabei wären gerade Jugendliche an einer Alternative interessiert. Im Gegensatz zu Hochschulabsolventen, die für ihre Ausbildung meist Darlehen in der Höhe von Tausenden von Dollar brauchen, müssten sie nach einem Berufsabschluss keine Schulden abzahlen und würden erst noch Geld verdienen.

Es sind indessen oft Eltern und Lehrer, die den Jungen abraten, diesen Weg zu wählen. Stellen in der Industrie seien schlecht bezahlt, würden keine Perspektiven bieten und möglicherweise bald nach China verlagert werden, lauten die Einwände.

Jeremy Diebel, der in South Carolina im Bereich des Maschinenbaus ein Ausbildungsprogramm leitet, sagte kürzlich, dass vorab die Kooperation mit Schulen schwierig sei. Lehrer und Berater wollten jeden einzelnen Schüler an eine Hochschule schicken.

Solche Missverständnisse seien wegen der fehlenden Zusammenarbeit zwischen Schulen, Eltern, Jugendlichen, Unternehmen und Institutionen entstanden, meint dazu ein Sprecher des amerikanischen Arbeitsministeriums.

Derweil ist die Berufsbildung ein Kernstück der Regierungsarbeit von Barack Obama. Vor zwei Jahren hatte der Präsident erstmals dazu aufgerufen, die Anzahl Lehrstellen zu verdoppeln. Seither hat er in jeder Rede zur Lage der Nation auf das ungenutzte Potenzial der Berufsbildung hingewiesen. Dafür stellte die Regierung über ein neues Programm 175 Millionen Dollar zur Verfügung.


Quelle: Neue Zürcher Zeitung, nzz.ch, Pfad: Startseite > Lebensart > Gesellschaft, 30.03.2016