Jeder sechste junge Erwachsene ist unterqualifiziert

Schlechte Bildungspolitik ist für die Wirtschaft wie eine dauerhafte Finanzkrise, warnt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und kritisiert, dass jedem sechsten jungen Erwachsenen die entscheidenden Qualifikationen fehlen.

Große Pläne, großer Aufwand – aber wenig Kontrolle: Das ist bei einem Großteil der seit 2008 in den OECD-Staaten eingeführten Bildungsreformen ein Problem. Im Schnitt wurde nur eine von zehn Reformen in den sechs Jahren bis 2014 auf ihre Wirksamkeit hin überprüft, zeigt die Studie "Education Policy Outlook 2015: Making Reforms Happen", die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Rahmen des Education World Forum in London vorstellte.

"Wenn wir wirkliche Resultate sehen wollen, brauchen wir eine sehr viel größere Nachverfolgbarkeit", sagte Andreas Schleicher, Leiter der Abteilung für Bildung und Fähigkeiten bei der OECD. "Wir versuchen an vielen Stellen die Bildungspolitik zu verbessern, aber wir verfolgen die Ergebnisse nicht", so der Experte.

Schlecht durchdachte Bildungspolitik wirke sich wegen der vielen verlorenen Chancen wie eine dauerhafte Finanzkrise auf die Wirtschaften der OECD-Mitgliedsstaaten aus, sagte Schleicher, der in Deutschland vor allem für die Anfertigung der Pisa-Studien bekannt ist. "Wenn alle Länder die gleichen Bildungsergebnisse wie Finnland erzielen würden, wäre das gleichbedeutend mit finanziellen Zugewinnen von 260 Billionen US-Dollar", so Schleicher.

Die OECD-Staaten geben pro Jahr rund 2,5 Billionen US-Dollar (rund 2,15 Billionen Euro) aus, "äquivalent zum Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens", erklärte Schleicher. Es komme aber sehr viel mehr darauf an, wie die Mitgliedsstaaten in Bildungspolitik investieren, nicht wie viel, so der Bildungsexperte. "Geld allein ist keine Lösung", sagte Schleicher.

Ihm zufolge mangelt es nicht an ambitionierten Regierungsprogrammen, sondern eher an der Nachverfolgbarkeit. "Bei zu vielen Bildungsreformen kann nicht gesagt werden, ob es ein Erfolg oder ein Misserfolg im Klassenraum war", sagte Schleicher.

 

Unqualifizierte Jugendliche als Risiko für die Gesellschaft

 

Und das hat Folgen: In einer zweiten, ebenfalls am Montag vorgestellten Studie "Education at a Glance – Update of Employment and Education Attainment Indicators" kommt die OECD zu dem Ergebnis, dass fast jeder Sechste im Alter von 25 bis 34 Jahren nicht die Fähigkeiten hat, die als essenziell für das Funktionieren in der heutigen Gesellschaft gelten. Diese Zahl hat sich seit 2003 nur unwesentlich verändert.

Der Organisation zufolge haben 13 ihrer Mitgliedsländer 15 Prozent oder mehr unqualifizierte Jugendliche und junge Erwachsene. "Es gibt immer noch eine vergleichsweise große Zahl an Bürgern, die wenig oder keine Qualifikationen haben", sagte Schleicher. Sowohl für die Gesellschaft als auch für den Arbeitsmarkt sei das ein großes Risiko.

So mangele es in Großbritannien jedem Fünften an Basis-Qualifikationen, Männer seien davon eher betroffen als Frauen. "Die Zahl der Beschäftigten steigt mit dem Niveau der Ausbildung", sagte Schleicher. "Diese Verbindung ist seit der Finanzkrise noch stärker geworden."

Zahlen der OECD zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, bei Tests wie Pisa schlecht abzuschneiden, höher ist, wenn die Schüler aus benachteiligten Familien kommen oder einen Migrationshintergrund haben.

Schleicher zufolge sei es wichtig, Kinder aus Migrationsfamilien nicht "abzuschreiben" und dieselben Leistungsanforderungen an sie zu stellen wie an Kinder ohne Migrationshintergrund. "Wir können die Kosten und Nutzen von Immigration selber beeinflussen", sagte der Bildungsforscher. Wegen der demografischen Entwicklung werde Deutschland in den kommenden Jahren mehr Zuwanderung brauchen.

 

Verbesserungsbedarf bei Universitäten

 

Wie eine Studie des Sprachschulanbieters EF Education First und der Economist Intelligence Unit zeigt, gibt es offenbar große Meinungsverschiedenheiten darüber, wer für die Steigerung der Innovationsfähigkeit eines Landes zuständig ist. Für die Studie hatte die Economist Intelligence Unit sowohl Firmenvertreter als auch Regierungsvertreter befragt.

75 Prozent der befragten Regierungsvertreter in zehn großen Wirtschaftsnationen der Welt, darunter Großbritannien, USA und China, glauben demnach, dass es allein die Aufgabe der Wirtschaft ist, die Rahmenbedingungen für Innovation zu schaffen.

Das sahen die Firmenvertreter anders. "Es gibt hier ein großes Missverhältnis", sagte Forschungsdirektorin Aviva Freudmann. "Die Leute, die auf den Eintritt in den Arbeitsmarkt vorbereitet werden, passen nicht zu den Bedürfnissen der Firmen."

OECD-Experte Schleicher hält die unterschiedlichen Vorstellungen von Regierungen und Firmen jedoch für eine positive Tatsache. "Wenn sich Regierungen und Firmen völlig einig wären, würden wir nur Leute produzieren, die genau zu den Anforderungen der Firmen von heute passen", sagte er. "Die Firmen können Ihnen aber nicht sagen, was sie morgen brauchen werden."

In Deutschland gebe es zwischen Firmen und Ausbildern einen guten Dialog, vor allem im Bereich der beruflichen Ausbildung. "Bei den Universitäten gibt es da allerdings noch Verbesserungsbedarf", sagte Schleicher.


Quelle: DIE WELT, welt.de, 19.01.2015