Brasiliens Wirtschaft stagniert, bleibt aber langfristig interessant

Die kommende Regierung Brasiliens, die im Oktober 2014 gewählt wird und Anfang 2015 an den Start geht, braucht ein langfristiges Wachstumskonzept. Zu den Hausaufgaben zählen die Vereinfachung des Steuersystems, Bürokratieabbau, mehr Bildung und Arbeitskräftequalifizierung, mehr Transparenz bei der öffentlichen Auftragsvergabe, mehr Wettbewerbskultur und mehr Innovation.

Das klare Aus gegen Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land zu verdauen, ist momentan nicht die einzige Herausforderung für Brasilien. Nach der euphorischen und hoffnungsvollen Weltmeisterschaft (WM), die dem Land immerhin zwölf Stadien von Weltniveau sowie einige Verbesserungen des öffentlichen Personentransports gebracht hat, kehrt der Alltag zurück. Wichtige Wirtschaftsindikatoren deuten nach unten. Doch gleichzeitig machen die langfristigen Perspektiven Hoffnung.

Die brasilianische Wirtschaft ist in der Stagnation. Anfang September 2014 lag die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) nur noch bei 0,4 Prozent. Derweil hat die Inflation der vergangenen zwölf Monate bereits den Zielkorridor von 6,5 Prozent durchbrochen, was der Zentralbank wenig Spielraum lässt, über Zinssenkungen die Wirtschaftsaktivitäten anzuheizen.

Industrie und Konsumenten verhalten sich abwartend, die jeweiligen Indizes der Zuversicht bezüglich der kommenden sechs Monate befinden sich auf Niedrigstand.

Die Unternehmen müssen verstärkt kollektiven Urlaub ausrufen, es drohen Entlassungen. Zu den Ursachen der Flaute zählen laut Kritikern, dass Brasilien zu stark auf temporäre Effekte und nicht konsequent genug auf langfristig wirkende Modernisierung gesetzt hat.

Die kommende Regierung, die im Oktober 2014 gewählt wird und Anfang 2015 an den Start geht, wird daher um ein langfristiges Wachstumskonzept nicht herumkommen. Zu den Hausaufgaben zählen die Vereinfachung des Steuersystems, Bürokratieabbau, mehr Bildung und Arbeitskräftequalifizierung, mehr Transparenz bei der öffentlichen Auftragsvergabe, mehr Wettbewerbskultur und mehr Innovation.

Der Präsidentschaftsbewerber Eduardo Campos, dem viele am ehesten einen solchen konsequenten Wandel zugetraut hätten, kam im August 2014 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Vom Programm der restlichen Kandidaten, inklusive der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff, sind viele Brasilianer noch nicht überzeugt.

Doch Brasilienkenner raten dazu, den größten Markt Lateinamerikas nicht vorschnell abzuschreiben. Falls die richtigen Weichen gestellt werden, wird der rohstoffreiche Agrarriese mit seiner 200 Millionen Einwohner zählenden, konsumfreudigen Bevölkerung in absehbarerer Zeit einen neuen Boom erleben. Die breit aufgestellte Wirtschaft bietet gerade deutschen Lieferanten von Kapitalgütern mannigfaltige Geschäftsmöglichkeiten.

Ein gutes Beispiel ist die Automobilindustrie, in der nach einigen Jahren mit hohen Wachstumszahlen momentan Katerstimmung herrscht. Die Anzahl der Neuzulassungen sank zwischen Januar und August 2014 um rund 10 Prozent, während die Produktion sogar um 18 Prozent einbrach.

Dennoch investieren alle globalen Konzerne weiter hohe Summen in den Wachstumsmarkt, wo bislang rechnerisch erst fünf bis sechs Einwohner auf ein Fahrzeug kommen. In reiferen Industrieländern sind es ein bis zwei Personen.

VW investiert bis 2018 rund 3,4 Milliarden Euro in Brasilien, obwohl der Konzern vorerst mit einer schwierigen Zeit am Zuckerhut rechnet. Auch Audi, Mercedes und BMW entschieden sich nicht nur wegen des geltenden Branchenregimes, das die Importe verteuert, dazu, vor Ort zu produzieren. Auch das hohe zukünftige Potenzial und die wachsenden Kundenschichten sind wichtige Gründe für den Schritt nach Brasilien.

Eine ähnlich niedrige Marktdurchdringung gilt für zahlreiche andere Produkte. Die soziale Aufwärtsbewegung, die in den vergangenen Jahren rund 30 Millionen bis 40 Millionen Brasilianer in die Mittelschicht befördert hat, wird sich fortsetzen und so neue Kundengruppen für anspruchsvollere Produkte schaffen.

Viel Potenzial sehen Marktexperten in folgenden Branchen: Öl und Gas, (Petro-) Chemie, Gesundheitswirtschaft, Schiffbau, Bergbau, Agrar- und Lebensmittelindustrie, Luftfahrt, Umwelttechnik sowie Informationstechnik und Telekommunikation.

Der Modernisierungsdruck, der derzeit wie Blei auf der Wirtschaft lastet, bringt auch Geschäftsmöglichkeiten mit sich, zum Beispiel beim Ausbau von Logistik und Infrastruktur. Die Energiewirtschaft kämpft mit drohenden Engpässe und wird zukünftig mehr auf Energieeffizienz und alternative Quellen setzen. Und mit den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro steht das nächste Großevent an, das einen mindestens genauso spannenden Zielsprint wie die Fußball-WM erwarten lässt. Denn noch liegen die Austragungsstätten rund um das neue Stadtviertel "cidade maravilhosa" (wunderbare Stadt) beunruhigend weit hinter dem selbstgesteckten Zeitplan.

Für Brasilien spricht sein stabiles, demokratische und marktwirtschaftliche Umfeld, das Unternehmen zwar zahlreiche Hürden zumutet, gleichzeitig aber auch eine solide und rechtssichere Basis für ein langfristiges Engagement bietet. Nach einem voraussichtlich schwachen Jahresabschluss 2014 und zähen Start 2015 könnte die Wirtschaftsentwicklung ab 2016 wieder mehr Fahrt aufnehmen.

Quelle: Germany Trade & Invest - GTAI, 01.10.2014