Spanien: Lernen wie die Deutschen

Spanien arbeitet an seinem Bildungssystem: Seat hat die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild eingeführt.

Marc Estapé steht an der Drehmaschine und gibt seinem Werkstück, einer Fördertischrolle, die richtige Form. Spiralförmige Metallspäne fallen herab, so wie es sein muss. Kein Lehr­meister schaut dem 21-Jährigen über die Schulter, "so viel Vertrauensvorschuss geben sie uns", sagt Estapé. Dabei ist die Drehmaschine "wirklich ziemlich, ziemlich teuer". Doch Estapé weiß sie routiniert zu bedienen. Er steht am Ende seines zweiten Ausbildungsjahres zum Werkzeugmechaniker in der Escuela de Aprendices in Barcelona - der Lehrlingsschule des Autoherstellers Seat, der zum deutschen Volkswagen-Konzern gehört. Die Schule gibt es schon lange, seit 1957, fast so lange wie Seat selbst, doch seit knapp zwei Jahren ist sie mit neuen Inhalten gefüllt: Jetzt durchlaufen die jungen Leute hier eine duale Berufsausbildung wie in Deutschland. Eine kleine Revolution. Einer der zurzeit 167 Auszubildenden bei dem spanischen Autobauer ist Marc Estapé.

"Nach dem Abitur musste ich mich entscheiden", erzählt Estapé, "entweder Universität oder Ausbildung. Hier bei Seat sah ich die Möglichkeit für eine berufliche Zukunft." Eine berufliche Zukunft: Das ist für Spanier der Generation Estapés so viel wie ein Lottogewinn. Mehr als 880 000 junge Leute zwischen 16 und 24 Jahren suchen in Spanien derzeit einen Job. Früher galt ein Studium als Königsweg zu einem sicheren Arbeitsplatz, aber die Zeiten sind vorbei. "Freunde von mir absolvieren ein Ingenieurstudium", erzählt die 19-jährige Dulce Polo, die gerade ihr drittes Lehrjahr im Seat-Werk in Martorell vor den Toren Barcelonas absolviert. "Und dann müssen sie als Kellner arbeiten." Dieses Schicksal wird Marc und Dulce aller Voraussicht nach erspart bleiben. Sie haben alle Chancen, nach ihrer Ausbildung von Seat übernommen zu werden.

 

Spaniens Unternehmen können nun mit jungen Leuten Ausbildungsverträge abschließen

 

Spanien hatte sich in den 1960er-Jahren zum Industrieland gewandelt, und damit änderte sich auch die Mentalität. "Die Eltern wollten, dass aus ihren Kindern etwas Besseres wird als aus ihnen selbst", sagt Manuel Moreno, Ausbildungsleiter bei Seat. Also schickten sie ihren Nachwuchs an die Universität. 40,7 Prozent der 30- bis 34-Jährigen in Spanien haben heute einen akademischen Abschluss - in Deutschland sind es 33,1 Prozent. "Währenddessen verlor die Berufsausbildung an Prestige", klagt Moreno. Nach Zahlen der OECD besitzen 8,4 Prozent der erwachsenen Spanier eine abgeschlossene Lehre - in Deutschland sind es 55,8 Prozent.

Mit der Arbeitsrechtsreform 2012 hat sich indes einiges verändert: Spanien hat die ersten Schritte unternommen, die verschulte Formación Profesional in eine praxisnahe duale Berufsausbildung zu verwandeln. Jetzt können Spaniens Unternehmen mit jungen Leuten Ausbildungsverträge abschließen. Bis dahin sammelten Berufsschüler Arbeitserfahrung nur in Form von Praktika, die oft gar nicht oder im besten Fall schlecht bezahlt wurden - was nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Unternehmen unbefriedigend war.

Der Deutsche Josef Schelchshorn, der vor vier Jahren nach einer langen Karriere bei Audi als Personalchef bei Seat begann, erzählt, wie er sich bei seinem Dienstantritt die Frage stellte: "Reicht das eigentlich, was wir in Sachen Ausbildung machen? Und die Antwort meiner Mitarbeiter war: Im Grunde müssen wir, wenn wir die jungen Leute übernehmen, immer noch Ausbildung nachschieben." Da kam die Arbeitsmarktreform gerade recht. Die VW-Tochter führte als Pionier in Spanien im Herbst 2012 die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild ein. Vom ersten Tag ihrer Ausbildung an sind die Lehrlinge jetzt angestellte Mitarbeiter von Seat, und sie erhalten ein Ausbildungsgehalt. 

 

Unternehmen können unter den Besten auswählen

 

Im Gegenzug zur Bezahlung sind die Anforderungen an die Auszubildenden gestiegen. Statt 2000 Stunden Theorie und Praxis in zwei Lehrjahren absolvieren die Seat-Schüler 4624 Stunden in drei Lehrjahren. Davon ist ein gutes Viertel Theorie, der Rest Praxis, erst in der Escuela de Aprendices und dann - insgesamt 1852 Stunden - im Betrieb selbst. "Wir sagen unseren Auszubildenden: Ihr werdet viel arbeiten, drei Jahre lang, und zwar bis obenhin!", sagt Ausbildungsleiter Moreno. "Manche glauben, die jungen Leute möchten so wenig wie möglich arbeiten - aber sie wollen Chancen!" Die bekommen sie bei Seat. Weshalb das Interesse groß ist: Um 60 neue Lehrstellen in diesem Jahr haben sich 912 junge Männer und Frauen beworben. Das Unternehmen kann unter den Besten auswählen. Wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, wird nicht mehr "nachgeschoben" werden müssen: Sie können als vollwertige Mitarbeiter in der Fabrik anfangen.

Gehört haben die Spanier in den vergangenen Jahren schon viel von der dualen Ausbildung, und eine kleine deutsche Privatschule, die sich gerade von "Aset" in "Feda Business School" umbenannt hat, bietet in Madrid und Barcelona bereits seit 1982 eine Reihe von Ausbildungsgängen nach deutschem Muster an - als mittlerweile staatlich anerkannte Auslandsberufsschule, die von der ­Zentralstelle für das Auslandsschul­wesen (ZfA) des Bundesverwaltungsamtes gefördert wird. Doch nun soll 
sich die Idee endlich in ganz Spanien ausbreiten. Die Deutsche Handelskammer für Spanien, die Seat für die Einführung der dualen Ausbildung mit dem diesjährigen Deutsch-Spanischen Wirtschaftspreis ausgezeichnet hat, versucht zu helfen, wo sie kann, und berät spanische Firmen, die dem Beispiel des spanischen Autobauers folgen wollen. Nach Zahlen des spanischen Bildungsministeriums absolvieren in diesem Jahr schon knapp 10 000 Berufsschüler in Spanien eine duale Ausbildung, etwa doppelt so viele 
wie im Vorjahr - aber immer noch 
sehr wenige angesichts von insgesamt mehr als 660 000 spanischen Berufsschülern.

 

Duale Ausbildung in aller Munde

 

Auch in Portugal ist die dortige deutsch-portugiesische Handelskammer einer der Motoren für die Verbesserung des dualen Ausbildungsmodells im Land; die Kammer betreibt selbst drei Ausbildungszentren in Lissabon, Porto und in Portimão an der Algarve unter dem Namen "Dual".

"Das Thema duale Ausbildung ist momentan in aller Munde", sagt Seat-Personalchef Schelchshorn. "Und es gibt mittlerweile sehr viele Interessenten, die uns fragen: Seat, wie macht ihr das eigentlich? Können wir uns das mal anschauen? Können wir das adaptieren? Natürlich. Unsere Türen stehen offen, wenn jemand zu uns kommt." Im besten Falle wird das Modell von Seat in Spanien Schule machen. "Das Schwierigste bei solch einem Wandel ist der Beginn", sagt Ausbildungsleiter Moreno. "Die Unternehmen müssen sich einbringen wollen, freiwillig. Aber ich bin zuversichtlich, dass die duale Ausbildung in Spanien in fünf Jahren einen großen Schritt nach vorn getan haben wird."


Quelle: Deutschland.de, 14.08.2014